„Sweet dreams are made of this. Who am I to disagree? I traveled the world and the seven seas, everybody's looking for something. Some of them want to use you. Some of them want to get used by you. Some of them want to abuse you. Some of them want to be abused.“ So singen es die Eurythmics in ihrem 80er-Kult-Hit „Sweet Dreams“, mit dessen ultra-eingängigen Klängen der Film „Kinds of Kindness“ beginnt – und direkt auch schon die inhaltliche Richtung anzeigt wird: nämlich Menschen für die eigenen Zwecke zu missbrauchen und wiederum von anderen für deren Zwecke missbraucht zu werden – das ist der wahre Stoff, aus dem die bittersüßen (Alp-)träume sind.
Drei Geschichten, eine Grundkonstante
„Who am I to disagree?“ Wer bin ich, dass ich mir das Recht herausnehme, über die sonderbaren Begierden anderer Mitmenschen und die Quellen ihrer süßen Träume zu urteilen? Yorgos Lanthimos jedenfalls ist in seiner bisherigen Karriere nicht unbedingt als ein Regisseur und Drehbuchautor aufgefallen, der süße Träume verfilmt. Eher ist er ein Spezialist für bizarre und unterkühlt inszenierte Albtraumszenarien, die stets ein starkes Unbehagen beim Zuschauer hinterlassen: Seit seinem internationalen Durchbruch mit dem sperrigen Film „Dogtooth“ (2009) sperrt der Grieche zusammen mit seinem Co-Autor Efthymis Filippou, mit dem er bereits die Arthouse-Frühwerke „Alpen“ (2011), „The Lobster“ (2015) und „The Killing of a sacred Deer“ (2017) realisiert hat, seine Figuren immer wieder in skurrile kleine Welten ein, die von undurchschaubaren Abhängigkeitsverhältnissen und seelischen Deformierungen gekennzeichnet sind.
Nach seinem oscargekrönten ersten Mainstreamfilm „The Favourite“ (2018) und dem großen Erfolg seines vierfachen Oscar-Gewinners „Poor Things“ Anfang dieses Jahres, hat Lanthimos mit „Kinds of Kindness“ jetzt sein nächstes exzentrisches und erneut schwerzugängliches Werk in die Kinos gebracht. Die zweifache Oscar-Preisträgerin und Lanthimos-Muse Emma Stone spielt dabei eine der Hauptrollen an der Seite von Jesse Plemons (der in Cannes für seine Darstellung in diesem Episoden-Film als bester Schauspieler geehrt wurde), Willem Dafoe, Margaret Qualley, Hong Chau, sowie Joe Alwyn, Mamoudou Athie und Hunter Schafer in Nebenrollen. Der Film erzählt in 165 Minuten drei unterschiedliche, nicht zusammenhängende und in sich abgeschlossene Geschichten, die aber auf eine einzigartige und surreale Weise dennoch thematisch miteinander verbunden sind.
Menschlicher Destruktivität sind keine Grenzen gesetzt
Die erste Episode zeigt uns einen getriebenen Mann, der versucht, die Kontrolle über sein Privatleben zurückzuerlangen, denn er lässt sein Leben bereits seit zehn Jahren von seinem Chef bis in kleinste Details der Nahrungsaufnahme und des Sexuallebens dirigieren. Die zweite Episode erzählt uns von einem beunruhigten Polizisten, dessen auf See vermisste Frau nach ihrer plötzlichen Rückkehr ein anderer Mensch zu sein scheint und er sie deswegen schmerzhaften Prüfungen unterzieht. Und die dritte von einer entschlossenen Frau, die zu einem esoterisch angehauchten religiösen Kult gehört, der einen „Auserwählten“ finden muss, der als Wunderheiler Tote wieder zum Leben erweckt.
Das sind jeweiligen die Ausgangssituationen. Dabei sind als offensichtliche Verbindung in diesen drei mittellangen Filmen immer wieder dieselben Schauspieler in unterschiedlichen und oft gegensätzlichen Rollen zu sehen. Die zentralen Darsteller tragen in allen Episoden jeweils unterschiedliche Namen und haben auch jeweils unterschiedliche biografische Hintergründe und Aussehen. Inhaltlich geht es in diesem filmischen Triptychon um ähnliche Themen, die jedoch aus verschiedenen Perspektiven gezeigt werden: Alles dreht sich dabei immer wieder um dunkle Abgründe und bizarre Szenarien, in denen Menschen mit Blick auf ihre Arbeitswelt, Partnerschaft, Sexualität und Spiritualität in toxischen Abhängigkeitsverhältnissen gezeigt werden, die sie oft ihrer menschlichen Würde berauben und zu Quellen von Irritationen und destruktivem Verhalten werden.
Von makaber bis grotesk
Es geht um Manipulation und Abhängigkeit, Macht und Hörigkeit, Willkür und Wahn und um Menschen, die aus falsch verstandener Liebe und dem Wunsch, geliebt zu werden, bereit sind, alles zu tun – bis hin zum Selbstopfer und Mord. Alle Darsteller in diesem Triptychon des Absurden warten mit einer grandiosen Intensität und Spielfreude auf, während die Drehorte leider wenig atmosphärisch wirken. Auch die unterkühlte Kameraführung von Robbie Ryan trägt dazu bei, dass man konsequent eine Distanz zu dem Gezeigten aufbaut. Mit streng quadrierten Einstellungen versucht sie die Ereignisse beinah klinisch sauber zu sezieren, während der Regisseur und sein Co-Autor sichtlich Genuss daran haben, ihre makabren Geschichten durch satirische und groteske Überhöhung ins Surreale abgleiten und stets offen und im wahrsten Sinne blutig enden zu lassen.
So bleibt der Zuschauer jedes Mal aufs Neue ein wenig ratlos zurück und fragt sich, was Menschen in Wirklichkeit antreibt, beziehungsweise was das Ganze ihm sagen soll. Irgendwie erinnern die Episoden dadurch immer wieder an die Geschichten aus Serien wie der „Twilight Zone“ oder „Black Mirror“, die sich ja auch selten selbsterklärend sind und dadurch nachhaltig verunsichern und verstören.
In ähnlicher Weise lässt uns Lanthimos mit seinem neuesten Film, wie schon in seinen Frühwerken, philosophisch in die finsteren Abgründe der menschlichen Seele schauen, zeigt uns die weniger schönen Seiten zwischenmenschlicher Beziehungen und legt seine Finger mit provokativer Lust in zahlreiche Wunden, die missbräuchliche Machtstrukturen verursachen können. Sein Film ist auch dank des atmosphärischen und archaischen Scores von Jerskin Fendrix kalt und berechnend – und schon der Titel „Kinds of Kindness“ ist kaum anders als zynisch zu verstehen, wartet Lanthimos‘ Werk doch mit einer Armada von Gemeinheiten auf, die so gar nichts mit zwischenmenschlichen Nettigkeiten zu tun haben, aber umso mehr mit antiker griechischer Tragödie und absurdem modernen Theater der Grausamkeit, indem selbst Heilsbringer kein Heil bringen können. „Sweet Dreams are made of this?“
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