Es ist nicht so, dass Aggressoren als Aggressoren geboren werden. Sie werden als wertvolle Personen geboren, die sie sind und bleiben. Irgendwann haben sie sich auf ihrem Lebensweg verirrt, und häufig sind sie selbst seelisch verletzt worden. Aus der neurobiologischen Forschung weiß man inzwischen, dass es nahezu immer Verletzte sind, die andere verletzen. Das entschuldigt ihr Fehlverhalten nicht, führt aber zu der Erkenntnis, dass es in Streit- und Konfliktfällen auch bei den „Feinden“ gilt, alles Erdenkliche zur Linderung ihrer seelischen Wunden zu tun, um sie zu „entfeinden“.
Schwärende seelische Wunden, die keine Linderung erfahren, können nämlich einen tragischen Prozess in Gang setzen, der im Folgenden kurz analysiert sei: Eine Person X ist unglücklich. Für unsere Zwecke ist es egal, weshalb X unglücklich ist. Aufgrund von Milieuschäden, schlechten Erfahrungen, persönlichen Handicaps oder begangenen Fehlern – es spielt keine Rolle. X ist unglücklich, und das ist schwer auszuhalten. Wenn X nun sieht, dass andere Menschen rings um ihn glücklich, fröhlich und beschwingt sind, ist sein eigenes Unglücklichsein fast nicht mehr auszuhalten.
Den Anderen nicht wünschen, unglücklich zu sein
Bei X braut sich eine kritische Gedankenkombination zusammen: Zuerst denkt sich X: „Ich wünschte, ich wäre so glücklich wie die Anderen!“ Das ist legitim. X ist es aber nicht und denkt bald umgekehrt: „Ich wünschte, die anderen wären so unglücklich wie ich!“ Faktum ist, dass ein Leid leichter in einer Gruppe von Leidenden zu ertragen ist, als isoliert. Ich erinnere mich beispielsweise an die Nachkriegszeit, in der wir Mädchen kaum etwas zum Anziehen hatten und im Winter allesamt in unseren dünnen Mänteln froren. Das wäre sehr viel bitterer für uns gewesen, wenn neben uns Schülerinnen aus reichen Elternhäusern uns schicke Moden und im Winter warme Pelzjacken vor Augen geführt hätten.
Der Wunsch, dass die anderen auch unglücklich sein mögen, ist allerdings ethisch fragwürdig, und das Gewissen von X müsste allmählich zu protestieren beginnen. Doch X fügt seinen Gedanken weitere hinzu: „Warum sollen die anderen glücklicher sein als ich? Das ist doch ungerecht! Gleiches Recht für alle! Wenn es mir elend geht, soll es den anderen nicht besser gehen! Wie komme ich dazu, allein zu leiden?“ Diese Argumentation irritiert sein Gewissen, denn das Gewissen hat grundsätzlich etwas für Gerechtigkeit übrig. Unsicher geworden, hält es still, und bei X fallen einige Hemmungen weg.
X wünscht sich also, dass Andere ähnlich unglücklich wären wie er, aber sie sind es eben nicht. Deshalb schließt sein nächster Gedanke an: „Dann muss ich nachhelfen, dass sie unglücklich werden. Ich kann mir nicht selbst helfen, glücklich zu werden, aber ich kann andere ins Unglück bringen.“ X ahnt vage, dass es weniger Möglichkeiten gibt, sich selbst glücklich zu machen, als es Möglichkeiten gibt, andere unglücklich zu machen. Er hält es für einen „gerechten Ausgleich“, auch andere Menschen zum Leiden zu bringen – und damit ist das Malheur auch schon passiert. Sein Gewissen zappelt hin und her, hat Mitleid mit X und hat Mitleid mit den anderen, und kann sich zu keiner eindeutigen Stellungnahme durchringen.
Bis hin zum Amoklauf
Ist X eine eher willensschwache Person, die etwa von Stärkeren getreten, verspottet, gemobbt wird, dann tritt sie jetzt ihrerseits Schwächere, fügt ihnen kleine Stiche zu, schwärzt sie hinterrücks an. Ist X eher eine willensstarke Person, dann holt sie zum wütenden Rundumschlag gegen irgendwen aus, bis hin zum Amoklauf.
Viktor E. Frankl hat dieses Problem des irritierten menschlichen Gewissens klar gesehen, als er in seinem Bericht über seine furchtbaren Jahre im KZ in einer Passage über die Zeit unmittelbar nach seiner Entlassung folgende Zeilen schrieb: „Wir gehen querfeldein, ein Kamerad und ich, dem Lager zu, aus dem wir vor kurzem befreit wurden, da steht plötzlich vor uns ein Feld mit junger Saat. Unwillkürlich weiche ich aus. Er aber packt mich beim Arm und schiebt mich mit sich mittendurch. Ich stammle etwas davon, dass man doch die junge Saat nicht niedertreten soll. Da wird er böse. In seinen Augen zuckt ein zorniger Blick auf, während er mich anschreit: ‚Was du nicht sagst! Und uns hat man zu wenig genommen...? Mir hat man Frau und Kind vergast… abgesehen von allem anderen… und du willst mir verbieten, dass ich ein paar Haferhalme zusammentrete...‘. Nur langsam kann man diese Menschen zurückfinden lassen zu der sonst doch so trivialen Wahrheit, dass niemand das Recht hat, Unrecht zu tun, auch der nicht, der Unrecht erlitten hat.
Und doch müssen wir daran arbeiten, diese Menschen zu dieser Wahrheit zurückfinden zu lassen, denn die Verkehrung dieser Wahrheit könnte leicht noch schlimmere Folgen haben als den Verlust von einigen Tausend Haferkörnern für einen unbekannten Bauern. Denn ich sehe noch vor mir den Kameraden aus unserem Lager… der seinen Hemdärmel aufkrempelte und mir die nackte Rechte unter die Nase hielt und mir entgegenschrie: ‚Diese Hand soll man mir abhauen, wenn ich sie nicht mit Blut beflecke ab jenem Tag, an dem ich heimkomme...‘ Und ich will betonen: Dieser Mann, der dies aussprach, war an sich kein übler Kerl und war immer im Lager und nachher der beste Kamerad gewesen.“
Damit die Aggressionsketten reißen
Es ist keine triviale, sondern eine fundamentale Wahrheit, dass niemand das Recht hat, Unrecht zu tun, auch der nicht, der Unrecht erlitten hat. Wie Frankl schrieb: Daran müssen wir arbeiten und es unserem Gewissen wieder und immer wieder erzählen und bestätigen, dass es gilt, die Aggressionsketten abreißen zu lassen, die durch die Welt laufen, und dass Unrecht nicht mit Unrecht erwidert werden darf, auch das entsetzlichste Unrecht nicht mit der kleinsten Übeltat.
Und wir müssen speziell die Unglücklichen, Verletzten und Angegriffenen auf unserer Erde bitten, ja, anflehen, dem Frieden eine Chance zu geben, denn auf sie kommt es an. Sie sind das Zünglein an der Waage zwischen endlos fortgesetztem Terror und einem gütlichen Miteinander der Völker. Das heißt aber auch, dass jedes bisschen Liebe, jede Linderung und jede Hilfeleistung, die wir den Unglücklichen, Verletzten und Angegriffenen auf unserer Erde zugutekommen lassen, eine fürwahr Frieden stiftende Maßnahme ist.
Die Autorin ist klinische Psychologin und Psychotherapeutin. Von 1986 bis 2003 leitete sie das Institut für Logotherapie in Fürstenfeldbruck.
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