Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Geschichte der Wiener Juden

Weihnachtsbaum und Davidstern

Am Broadway in New York findet auch ernstes Theater statt: Tom Stoppards neues Drama „Leopoldstadt“ erzählt die Geschichte der Wiener Juden von der Emanzipation bis zur Ermordung.
Theaterstück "Leopoldstadt" auf deutsch aufgeführt
Foto: Moritz Schell (Theater in der Josefstadt) | Die Schauspieler stehen für Tom Stoppards Stück „Leopoldstadt“ bei einer Probe im Theater in der Josefstadt auf der Bühne. Das Stück wird erstmals auf Deutsch aufgeführt.

Der Weihnachtsbaum ist geschmückt, es fehlt nur noch der Stern auf der Spitze. Die Kinder suchen in den Kartons, setzen ihn oben drauf und rufen stolz die Mutter. „Ein sehr schöner Stern“, sagt sie nach kurzem Erschrecken mit mütterlicher Milde, „es ist aber der falsche Stern, Kinder. Sucht noch einmal weiter“. Das kann man verstehen, dass die Kinder verwirrt sind. Es geht eben viel durcheinander in der jüdischen Familie Merz im Jahr 1899. Der Davidstern muss wieder herunter, der Stern von Bethlehem kommt auf den Baum. Dann singt man Weihnachtslieder und packt die Geschenke aus.

Der Lapsus der Kinder bringt es auf den Punkt und steht sinnbildlich am Anfang dieses Dramas. Die jüdische Familie ist in Wien assimiliert, manche feiern begeistert Weihnachten, andere sehen sich ohnehin in erster Linie als österreichische Patrioten oder haben sich schon taufen lassen, um ihre Herkunft abzuschütteln und endlich ganz zu den besseren Kreisen der Wiener Gesellschaft zu gehören. Es gibt Familienmitglieder, die mit Religion nichts am Hut haben und ihr Jüdischsein nur als Tradition und Folklore pflegen wollen. Wieder andere träumen von einem neuen „gelobten Land“, vom Leben in Palästina und einem jüdischen Staat. Und für manche Familienmitglieder ist genau das der ultimative Albtraum: „Palästina? Welche Sprache sollen wir denn da sprechen?“ „Hebräisch natürlich.“ „Aber wir können doch gar kein hebräisch.“

Man bleibt Jude, ein Mensch zweiter Klasse

So widersprüchlich und ambivalent geht es zu in der weitläufigen Verwandtschaft der Familie Merz-Jakobovicz, die der 85 Jahre alte britische Autor Tom Stoppard in seinem neuen Theaterstück „Leopoldstadt“ zeigt, und er tut es, so könnte man sagen, in der Breite wie auch in der Tiefe. Mehr als 30 Figuren aus vier Generationen und einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert umspannt das Stück, vom Fin de Si cle bis weit in die europäische Nachkriegszeit hinein. Das ist die Breite. Doch in die Tiefe geht es auch: Jede Zeit hat ihre eigenen Widersprüche und Nuancen, und es ist verdienstvoll, wie genau und differenziert Stoppard die Gefühlslage der Beteiligten darstellt. „Vergiss Palästina! Wien ist das gelobte Land“, sagt der Unternehmer Hermann Merz, der stolz auf die Emanzipation der österreichischen Juden in der Habsburger Monarchie ist, „rechtlich haben wir schon fast alles erreicht. In der Kultur, der Musik, der Wissenschaft sind wir führend. Nur das mit den Vorurteilen gegen Juden dauert halt etwas länger“.

Andere in seiner Familie sind da weitaus skeptischer. „Es ist völlig gleich, was ich tue oder leiste, am Ende sieht man in mir immer nur eines: einen Juden“, sagt der junge Mathematiker Ludwig, der sich vielleicht auch deshalb für die Welt der Zahlen begeistert, weil dort klare Gesetze gelten und das für alle gleichermaßen, immer und überall; Mathematik kennt keine Rassen und Religionen.

Hermann Merz dagegen bekommt die Grenzen der Emanzipation, die ihm so viel bedeutet, bald zu spüren. Als er den heimlichen Liebhaber seiner Frau zum Duell fordern will, sagt der kühl: „Für einen österreichischen Offizier ist ein Jude nicht satisfaktionsfähig.“ „Aber ich bin kein Jude mehr, ich bin getauft“, entgegnet Hermann Merz. „Dann sagen wir es so: Wer eine jüdische Mutter hat, der kann keinen Offizier zum Duell fordern.“ Weder sein Reichtum noch sein Übertritt zum Christentum helfen Hermann, seine Ehre zu retten. Man bleibt Jude, man bleibt Mensch zweiter Klasse im Wien der k. und k.-Monarchie.

Für Optimismus schon in den 1930ern kein Grund

Und als 1938 die SS-Leute auftreten, das Textil-Unternehmen der Familie beschlagnahmen und vom Kind bis zur Großmutter alle deportieren, da hilft es auch nicht, dass Männer der Familie im Ersten Weltkrieg für Österreich gekämpft und geblutet haben. Es sind die bedrückendsten Augenblicke in der Inszenierung von Patrick Marber im vollbesetzten Broadway-Theater: Wenn die Figuren auf der Bühne optimistisch sind, wenn sie ihre Hoffnungen auf Anstand und Würde setzen, auf Recht und Gesetz, auf ihren Patriotismus oder einfach auf das Gute im Menschen. Der Zuschauer von heute hat den Figuren des Theaterstücks voraus, dass er weiß, wie die Geschichte weitergeht. Zu Optimismus gab es schon in den 1930er Jahren keinerlei Grund mehr. Man darf annehmen, dass auch hier am Broadway Nachfahren von Holocaust-Opfern im Publikum sitzen. Viele sind ergriffen von der Geschichte, die auch ihre Geschichte ist. Denn dass ein guter Teil des Publikums jüdisch ist, zeigt sich schon daran, dass viele gleich mitsingen, als auf der Bühne ein traditionelles Pessachlied gesungen wird. Es ist einer der wenigen heiteren Momente.

Ganz am Ende des Stückes, im Jahr 1955, steht die Hilflosigkeit der Überlebenden und Nachgeborenen, mit dieser Vergangenheit irgendwie zurecht zu kommen, Schuld zu benennen, Trauer zu bewältigen, Erinnerung wach zu halten, den eigenen Platz in dieser Geschichte zu finden und das Schicksal der Vorfahren überhaupt noch zu begreifen. Insofern ist „Leopoldstadt“ benannt nach dem 2. Wiener Stadtbezirk auch eine ganz persönliche Vergangenheitsbewältigung von Tom Stoppard, der als Tom Sträussler im Juli 1937 in der mährischen Stadt Zlin geboren wurde und sämtliche Großeltern im Holocaust verlor. Ihn selbst rettete die frühe Auswanderung der Familie nach Fernostasien. Über Singapur und Indien, wo er zur Schule ging, führte ihn sein Weg später nach England. Für seine jüdische Herkunft und Vorfahren hat er sich nach eigener Auskunft bis in die 1990er Jahre hinein überhaupt nicht interessiert. So wie der junge Leo in der Schlussszene wollte er ganz Brite sein und im Hier und Jetzt leben, statt sich mit der Vergangenheit zu belasten. Er nahm den Namen seines Stiefvaters an und widmete sich anderen Themen in seinen Stücken, mit denen er seit über 50 Jahren auf vielen Bühnen der Welt präsent und erfolgreich ist. Das umfangreiche Werk reicht von frühen Stücken im Stile Samuel Becketts („Rosenkrantz & Güldenstern sind tot“, 1966) über existenzialistische Stücke („Travestie“, 1974) bis zu Drehbüchern für populäre Hollywood-Filme („Shakespeare in Love“, „Anna Karenina“).

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Eine lebendige Geschichtsstunde

„Leopoldstadt“ ist neu und ist es doch nicht. 2019 hat Stoppard binnen weniger Monate das Stück geschrieben, im Jahr darauf wurde es in London uraufgeführt. Doch das war wenige Tage vor Ausbruch der Corona-Pandemie, so dass die Aufführungen gleich nach Beginn wieder eingestellt werden mussten. Auch am Broadway hat es lange gedauert, bis der Theaterbetrieb sich einigermaßen normalisiert hat, zumal es hier fürs Theater keinerlei staatliche Subventionen gibt. Während deutsche Autoren und Regisseure sich ums Publikum und seine Wünsche nicht scheren müssen, kann sich am Broadway nur durchsetzen, was auch kommerziell erfolgreich ist. Doch ernstes Theater und gute Regie finden trotzdem statt. „Leopoldstadt“ beweist, dass der Erfolgsdruck keinesfalls zur primitiven Boulevardisierung des Theaters führt und gute Kunst auch vom Publikum angenommen wird. Bei acht Aufführungen pro Woche und Preisen zwischen 80 und 400 US-Dollar pro Eintrittskarte ist das Stück seit Monaten durchweg ausverkauft.

Zum Erfolg beim Publikum kommt der Zuspruch der Kritiker. Wenn am 11. Juni in New York die diesjährigen „Tonys“ verliehen werden, ist „Leopoldstadt“ in sechs Kategorien nominiert, unter anderem als bestes Theaterstück des Jahres und für die beste Regie. Das wird noch nicht das Ende der Erfolgsgeschichte sein. Auch wenn die Broadway-Werbung „Das Theaterstück, das jede Generation gesehen haben muß“ sehr marktschreierisch und aufgeblasen ist, so ganz falsch ist das nicht: Hier wird ein wichtiges, tragisches und kompliziertes Stück Geschichte klug aufbereitet und neu zugänglich. Mag sein, dass der geschichtsdidaktische Anspruch des Autors bisweilen allzu deutlich ist, doch gerade mit Blick auf jüngere Generationen, die mit wenig Vorwissen kommen, geht Stoppards Kalkül auf, aus dem Theater wenn schon keine „moralische Anstalt“ im Sinne Schillers, dann aber eine lebendige Geschichtsstunde zu machen, die man so schnell nicht mehr vergisst. Deshalb spricht viel dafür, dass dieses Stück rund um die Welt so viel Furore machen wird wie in den vergangenen Monaten in New York. Und Tom Stoppard, seit vielen Jahren als Favorit gehandelt, könnte es doch noch den Literaturnobelpreis einbringen. Alles, was es sonst zu gewinnen gibt, auch einen Oscar, hat er schon.

„Leopoldstadt“ endet, indem eine Tante im Jahr 1955 dem bislang kaum an Familiengeschichte interessierten Leo den Stammbaum erklärt. Dazu sagt sie, was aus jedem einzelnen Familienmitglied geworden ist. Es ist ein grauenhafter Nekrolog, der das laute und temporeiche Stück nach gut zwei Stunden mit leisen, gehauchten Worten beendet: „Selbstmord“, „Auschwitz“, „Auschwitz“.

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