Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Interview

Typischer Habsburger und liebenswerter Heiliger

Vor 20 Jahren wurde der letzte regierende Kaiser von Österreich und König von Ungarn, Karl von Habsburg-Lothringen (1887–1922), von Papst Johannes Paul II. in Rom seliggesprochen. Die amerikanische Habsburg-Expertin Suzanne Pearson ist Delegierte der „Kaiser Karl Gebetsliga“ in den USA: Sie sieht Kaiser Karl als Vorbild und Inspiration für heute.
Karl von Habsburg-Lothringen, letzte regierende Kaiser von Österreich-Ungarn
Foto: gemeinfrei / wikimedia commons | Heroisch tugendhaft: der seliggesprochene letzte regierende Kaiser von Österreich-Ungarn, Karl I.

Frau Pearson, welche Relevanz hat nach Ihrer Ansicht die Seligsprechung von Kaiser und König Karl vor 20 Jahren?

Die Seligsprechung Kaiser Karls war vor allem bedeutsam, weil er ein Laie und kein Märtyrer war. Für Nicht-Märtyrer muss die Kirche heroische Tugend nachweisen. Der Grund dafür, dass die meisten Heiligen und Seligen Priester und Ordensleute sind, liegt darin, dass religiöse Orden und Diözesen über eine interne Infrastruktur verfügen, um die Heiligkeit ihrer Mitglieder zu untersuchen. Die Personen, die als Zeugen aufgerufen werden, sind leicht innerhalb desselben Ordens oder derselben Diözese zu finden. Bei Laien ist das weit schwieriger. Die Identifizierung und Verortung potenzieller Zeugen, aber auch die Auswahl und Finanzierung von Postulatoren, die die Sache voranbringen, ist ein Prozess, der langwierig und kostspielig sein kann. Der zweite Grund ist, dass Kaiser Karl ein vorbildlicher Ehemann und Vater war, dessen Vorbild heute bei allen Angriffen auf die Familie so nötig ist. Die Tatsache, dass er auch Kaiser und König und damit ein „Vater vieler Nationen“ war, verstärkt seine Anziehungskraft auf junge Paare, die bei der Familienerziehung oft mit enormen Anforderungen an Zeit und Ressourcen konfrontiert sind.

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Menschen jeden Alters fühlen sich zu einem mutigen Soldaten hingezogen, der sich für den Frieden eingesetzt hat, zu jemandem, der trotz seiner hohen Stellung ein demütiges Wesen und Sinn für Humor hat, zu jemandem, der trotz großer Verluste und bitteren Verrats verzeihen konnte. Natürlich schadet es nicht, dass wir – im Vergleich zu vielen Heiligen – über viele Bilder, echte Filmaufnahmen und Hunderte von Anekdoten mit tatsächlichen Dialogen verfügen, wodurch sein bewundernswerter Charakter und seine liebenswerte Persönlichkeit auch künftigen Generationen vermittelt werden. Der heilige Papst Johannes Paul II. tat sein Möglichstes, um Menschen aus allen Ländern, Kulturen und Gesellschaftsschichten selig- und heiligzusprechen. Im Zeitalter der Demokratie scheint ein gekrönter König der unwahrscheinlichste Kandidat zu sein. Aber das beweist, dass die Heiligkeit allen offen steht, auch den Unwahrscheinlichsten.

Wofür und warum sollten Christen diesen Monarchen ehren?

Christen sollten diesen Monarchen für seine heroische Tugend ehren – jede Tugend lebte er in heroischem Maße: Glaube, Hoffnung, Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Klugheit, Standhaftigkeit und Mäßigung sowie die untergeordneten Tugenden und die Treue gegenüber den Pflichten des eigenen Standes im Leben. Dies gelang ihm nicht in der Stille eines Klosters, sondern im erschütternden Umfeld der säkularen Politik, in Kriegszeiten, im konfliktreichen 20. Jahrhundert. Die Kirche erstellt eine „Positio“, die die heroische Tugend des untersuchten Kandidaten beweist. Die Positio von Kaiser Karl enthält Tausende von Seiten, die Aussagen von Dutzenden Zeugen – Prälaten, Priestern, Staatsmännern, Staatsoberhäuptern, Militärs, Familienangehörigen, Dienern, Adligen, einfachen Leuten, sogar politischen Feinden von Kaiser Karl – die alle seine heroische Tugend bezeugen. Ich habe die Positio studiert und finde ihre Lektüre wirklich inspirierend.

Könnte Karl auch die Politiker von heute inspirieren? Was könnten sie von ihm lernen?

Obwohl es für jeden Menschen schwer wäre, in jeder Tugend einen heroischen Grad zu erreichen, muss es für jene im politischen Leben besonders schwer sein. Nicht nur sind die Versuchungen, Geld, Macht und Vergnügen anzuhäufen, im politischen Leben größer und leichter zu erreichen; der politische Prozess ist selbst eine Quelle der Versuchung. Es beruht auf der Grundlage des Kompromisses. Kaiser Karl musste, obgleich er Monarch war, mit ausländischen Führern verhandeln, internationale Diplomatie betreiben, die konkurrierenden Forderungen der Völker und Nationen seines Reichs ausgleichen und die Entscheidungen der jeweiligen Landesgerichte und gesetzgebenden Körperschaften berücksichtigen, was ein gewisses Maß an Kompromissen erforderte.

„Kaiser Karl wäre bereit, alles zu opfern, was ihm gehörte,
aber er würde kein Jota von dem opfern, was Gott befohlen hat.“

Sein Wunsch, gerecht zu regieren, veranlasste ihn, durch das ganze Reich zu reisen, den Menschen zuzuhören und ihre Beschwerden anzusprechen. Auch hier waren Kompromisse notwendig. Seine Lektion für die heutigen politischen Führer ist, dass Kompromisse gut und notwendig sind, es aber eine bestimmte Grenze gibt, die man nicht überschreiten darf: Das ist die Linie, die Gott in seinen Zehn Geboten festgelegt hat. Etwa: „Du sollst nicht töten“ oder „Du sollst nicht stehlen.“ Kaiser Karl wäre bereit, alles zu opfern, was ihm gehörte, aber er würde kein Jota von dem opfern, was Gott befohlen hat. Kaiser Karl ist ein leuchtendes Beispiel für politische Führer in allen Regierungsformen, indem er zeigt, wie man die Menschen unter seiner Autorität liebt, sich für Gerechtigkeit für alle einsetzt und die Lebensbedingungen der Menschen verbessert. Er war den Menschen gegenüber aufgeschlossen und reiste weite Strecken, um Menschen zuzuhören und ihre Beschwerden anzusprechen.

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Hat sich in den Ländern des Donauraums und darüber hinaus eine signifikante Verehrung Kaiser Karls entwickelt?

Ich habe wunderschöne Messen und andere Veranstaltungen zu Ehren von König Karl in Ungarn besucht, habe in vielen Teilen Italiens große Verehrung für ihn gesehen, habe sein Heiligtum in der Kathedrale von Bratislava gesehen und von großen Fortschritten in der Verehrung für ihn in Kroatien und Tschechien gehört. Vor allem weiß ich, dass in den Vereinigten Staaten die Verehrung für Kaiser Karl sprunghaft zunimmt. Jedes Jahr werden ihm vier oder fünf neue Sakralbauten gewidmet. An Messen und anderen Veranstaltungen zu seinen Ehren nehmen Hunderte von Menschen teil, die auch danach immer bleiben und viele Fragen stellen. Über unsere Website werden ständig Gebetskarten, Broschüren, Novenen, Statuen und andere Andachtsgegenstände verschickt. Erst in der Vorwoche war ich tief bewegt, als ich sah, wie Menschenmengen von je 500 oder mehr Menschen an so unterschiedlichen Orten wie Massachusetts und Louisiana zusammenkamen, um den seligen Karl zu ehren und mehr über ihn zu erfahren. Paare suchen seine Fürsprache, damit er ihnen in ihrer Ehe zu helfe. Viele kleine Buben heißen Karl, andere nehmen „Karl“ als Firmnamen an, viele verkleiden sich am Vorabend von Allerheiligen wie er. Der selige Karl hat mitgeholfen, dass viele Babys gesund zur Welt kamen, nachdem die Ärzte sie aufgaben und ihre Mütter zur Abtreibung aufforderten. Es scheint seine Spezialität zu sein, Babys und Kleinkindern zu helfen.

In Österreich wird Kaiser Karl vergessen oder ignoriert. Was sagt das über die Österreicher?

Nach dem Krieg, als Kaiser Karl im Exil war, machte er dem österreichischen Volk nie Vorwürfe, dass es ihn nach dem verlorenen Krieg im Stich gelassen hatte, sondern betonte immer, wie dankbar er sei, dass es sein Leid so lange geduldig ertragen habe. Tatsache ist, dass Kaiser Karl während eines Großteils seiner Regierungszeit bei den meisten seines Volkes sehr beliebt war. Bis heute genießt er bei jenen Österreichern hohes Ansehen, deren Informationen aus direkten Quellen stammen – zum Beispiel aus Geschichten, die ihnen in der Familie von Großvätern überliefert wurden, die unter ihm im Krieg gedient haben, oder solchen, die aus den Erinnerungen enger Mitarbeiter in den frühen Tagen der Gebetsliga gelernt haben. Wenn es in Österreich immer noch viel Widerstand gegen Kaiser Karl gibt, bedeutet das wohl, dass viele Menschen noch immer an die von Feinden als Kriegspropaganda verbreiteten Karikaturen glauben. Ausländische Feinde waren dafür nicht die einzige Quelle. Damals wie heute gab es mächtige Elemente, die sich Kaiser Karl widersetzten, nicht weil er darin versagt hätte, den Idealen eines christlichen Monarchen gerecht zu werden, sondern weil er sie nur allzu gut vertrat.

Wenn es bei einigen Österreichern eine Zurückhaltung gibt, sich mit Kaiser Karl anzufreunden,
dann glaube ich, dass dies nur vorübergehender Natur ist.

Doch dank der in der Positio dokumentierten Forschung und der Offenheit einer neuen Generation kommt letztlich die Wahrheit ans Licht. In meinem Land hören wir in der Öffentlichkeit heute viel über „Desinformation“ und „Fehlinformationen“, aber das ist kein neues Phänomen. Die vorsätzliche Zerstörung des Ansehens von Kaiser Karl war ein frühes und besonders eklatantes Beispiel. Dank Internet können die Menschen nun aus Primärquellen etwas über diesen heiligen Staatsmann erfahren und müssen sich nicht auf die Narrative verlassen, die von fehlgeleiteten Eliten verbreitet werden. Wenn es bei einigen Österreichern eine Zurückhaltung gibt, sich mit Kaiser Karl anzufreunden, dann glaube ich, dass dies nur vorübergehender Natur ist. Sobald die Tugenden Kaiser Karls bekannt werden und sein Volk erkennt, wie sehr er es „bis in den Tod“ liebte, werden die Österreicher verstehen, warum Menschen auf der ganzen Welt sie darum beneiden, dass ein so liebenswerter Heiliger sie so besonders liebt.

Halten Sie Kaiser Karl für einen typischen oder herausragenden Vertreter des Hauses Habsburg?

Kaiser Karl ist in vielerlei Hinsicht ein typischer Habsburger. Er war ein überzeugter Katholik, er war sich der Geschichte, der Segnungen und der Bedeutung seiner Dynastie bewusst und empfand ein starkes Verantwortungsbewusstsein für die Völker, die Gott seiner Fürsorge anvertraut hatte. Als bewusster Katholik nahm er die Ehe sehr ernst, liebte seine Frau von ganzem Herzen und erzog seine Kinder mit größter Sorgfalt, insbesondere im Hinblick auf ihre spirituelle Entwicklung. Dieses katholische Erbe der Familie Habsburg war unter den Herrscherhäusern Europas bemerkenswert. Und Kaiser Karl war sicher nicht der erste, der sich als Heerführer oder Kaiser hervortat, der seine Regierungsgeschäfte mit Integrität und Fleiß führte.

In mancher Hinsicht war Kaiser Karl jedoch auch als Habsburger außergewöhnlich. Die Höhe seiner heroischen Tugend wäre in jeder Familie außergewöhnlich. Und es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass diese heroische Tugend nicht nur während seiner Regierungszeit, sondern auch während seines Exils und unter den Umständen seines heiligmäßigen Todes zum Vorschein kam. Er ragte unter anderen katholischen Staatenlenkern durch die Tiefe seines Gebetslebens heraus. Er war davon überzeugt, dass das Gebet – sei es von kontemplativen Mönchen und Nonnen, von gewöhnlichen Menschen und in besonderer Weise sogar seine eigenen Gebete als Vater seiner Völker – einen wichtigen Einfluss auf die Zukunft der Völker und Nationen des Reiches hatte. Er war wirklich ein Kontemplativer in Aktion. Schließlich hat der selige Karl das Potenzial, die Menschen unserer Zeit zu beeinflussen, vielleicht mehr als viele heilige Herrscher früherer Zeiten, weil sein Leben viele der drängenden Probleme unserer Zeit so beredt anspricht. Ob es um den Schutz des Lebens, die Heiligkeit der Ehe, das Subsidiaritätsprinzip in der Regierung oder die Erinnerung daran geht, dass die Förderung des Wohlergehens der Menschen vor allem ihr geistiges Wohl einschließt: Die Worte wie die Taten von Kaiser Karl drücken genau das aus, was unsere Zeit hören müsste. Und viele Menschen, vor allem junge Menschen, nehmen es mit offenen Ohren auf.


Lesen Sie hier das Interview in der englischen Originalfassung

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