De gustibus non est disputandum“, besagt ein altes lateinischen Sprichwort: Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Schließlich mundet dem einen dies, dem anderen jenes. Geschmacksurteile sind relativ zu dem, der urteilt, und daher eben auch subjektiv. Der Versuch, objektive Standards anzulegen, der Streit um die Wahrheit, ist hier fehl am Platz. Gilt nun aber für das Auge dasselbe, was für den Gaumen gilt? Liegt auch die Schönheit nur im Auge des Betrachters?
In unserer in so gut wie jeder Hinsicht zum Relativismus neigenden Zeit liegt es nahe, diese Frage mit einem Ja zu beantworten. Die Art und Weise, wie wir uns über Kunst tatsächlich unterhalten, zeugt aber vom Gegenteil: Es gibt nämlich sehr wohl immer wieder Streit darüber, was schön und was hässlich ist. Wer etwa die Schönheit gotischer Kathedralen lobt und die seelenlose Kastenarchitektur unserer Tage für hässlich erklärt, meint in der Regel einen objektiven Sachverhalt beschrieben, statt bloß seinen individuellen Geschmack bekundet zu haben.
Thomas und Kant: Schönheit ist niemals beliebig
Dass Schönheit nicht beliebig ist, sondern objektiven Kriterien unterliegt, ist für die christliche Philosophie des Mittelalters fast schon selbstverständlich. Nach Thomas von Aquin hängt Schönheit von drei Bedingungen ab: erstens von „Makellosigkeit oder Vollkommenheit“, zweitens von „Proportion oder Harmonie“ und drittens von „Glanz“ oder Helligkeit. Alle irdische Schönheit ist aber letztlich nur der Abglanz der unendlichen Herrlichkeit des Schöpfers. „Erfüllt sind Himmel und Erde von deiner Herrlichkeit“, heißt es dementsprechend im Sanctus, das in der heiligen Messe angestimmt wird.
Was aber, wenn Gott als Garant einer objektiven Schönheit fragwürdig geworden ist? Lässt sich dann überhaupt noch ein Begriff von Schönheit fassen, der nicht im Relativismus und damit in der Hässlichkeit mündet? Mit Immanuel Kant, dessen 300. Geburtstag dieses Jahr begangen wird, gibt es einen modernen Denker, der Urteile über das Schöne als subjektiv und dennoch als allgemeinverbindlich verstanden wissen wollte. Das mag zunächst paradox klingen, erweist sich bei näherer Betrachtung aber durchaus als stimmig.
Nachdem Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ (1781/1787) sich mit der Möglichkeit und den Grenzen der Erkenntnis beschäftigt und in der „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788) die moralische Dimension menschlichen Handelns vermessen hatte, wandte er sich in seiner dritten und letzten Kritik, der „Kritik der Urteilskraft“ (1790), Phänomenen zu, die seiner Ansicht nach weder richtig ins Feld theoretischer Erkenntnis noch in das Feld praktischen Handelns passen wollten. Dazu gehört auch die Ästhetik mit ihren Urteilen über das Schöne.
Wenn er ästhetisch urteilt, sagt der Mensch etwas über Gegenstände, die außerhalb seiner existieren. Allerdings sind Aussagen über ästhetische Qualitäten eben nicht nur nüchtern-beschreibend, sondern wertend. Wertungen aber verweisen auf das wertende Subjekt: Die räumlichen Maße von Michelangelos David etwa lassen sich ebenso objektiv bestimmen wie der Härtegrad des Marmors, aus dem er gehauen wurde. Seine atemberaubende Schönheit scheint sich hingegen nicht auf dieselbe Weise „im“ oder „am“ Gegenstand zu befinden, sondern sich erst in Beziehung auf das Subjekt, das ihn betrachtet, zu entfalten. Und dennoch ist das Urteil über die Schönheit des David nicht beliebig und funktioniert daher irgendwie anders als die Aussage über das persönliche Lieblingseis.
Was man als schön beurteilt, dazu muss man nicht unbedingt eine Neigung haben. Eine gute Kunstkritik zeichnet sich auch dadurch aus, dass der Kritiker auf die ästhetischen Qualitäten des Werkes aufmerksam macht, statt geschmäcklerisch seine Vorlieben in den Mittelpunkt zu rücken. Erst recht nicht ist das Schöne an äußeren Kriterien der Nützlichkeit zu beurteilen. Das Wohlgefallen, das wir am Schönen empfinden, ist nach Kant vielmehr „ohne alles Interesse“. Wer angesichts des Schönen fragt: „Wozu ist das gut?“, der hat nicht verstanden, was Schönheit ist.
Das Schöne und das Gute gehören zusammen
Ist es aber nicht von Mensch zu Mensch verschieden, wer woran „interesseloses Wohlgefallen“ empfindet? Kant ist anderer Ansicht. Wer etwas als schön bezeichne, der sinne nämlich anderen an, ihm zuzustimmen. Urteile über das Schöne lassen sich nach Kant zwar nicht beweisen, haben ihren Grund aber im allgemeinen menschlichen Erkenntnisvermögen. Sie könnten daher zwar keine Objektivität, dafür aber „subjektive Allgemeingültigkeit“ beanspruchen. Was bedeutet das? Die Betrachtung des Schönen setzt laut Kant unser Erkenntnisvermögen auf eine besondere Art und Weise in Bewegung. Im Besonderen seien es unsere Einbildungskraft, das heißt: unsere Fantasie, und unser Verstand, die durch den Kontakt mit dem Schönen in „ein freies Spiel“ gerieten. Das Schöne regt uns nach Kant also einerseits dazu an, es verstandesmäßig zu durchdringen und auf den Begriff zu bringen.
Andererseits belebt das Schöne ihm zufolge unsere Fantasie auf geradezu unerschöpfliche Weise, weshalb es sich zugleich jedem Versuch einer endgültigen kognitiven Durchdringung entzieht. Nur deshalb ist es möglich, immer wieder neu voller Staunen vor ein Kunstwerk zu treten. Zugleich ist das unerschöpfliche, freie Spiel der Erkenntniskräfte der Grund dafür, dass ein schöner Gegenstand interessanter und nicht etwa langweiliger wird, je mehr wir uns mit ihm beschäftigen.
Im Umgang mit dem Schönen erlebt und genießt der Mensch nach Kant letztlich die Autonomie der eigenen Urteilskraft. Aus diesem Grund ist das Schöne für Kant auch ein „Symbol des Sittlichguten“. Denn auch die Moral gründet für Kant bekanntlich in der Autonomie des Menschen, seiner Fähigkeit zur vernünftigen Selbstgesetzgebung.
An diesem Punkt jedoch offenbart sich der entscheidende Unterschied zwischen der kantischen Ästhetik und der christlichen Philosophie der Schönheit: Bei Kant führt das Schöne den Menschen in sich hinein, bei Thomas und den Denkern der Scholastik hingegen verweist es den Menschen über sich hinaus auf den, der nicht nur die Quelle des Schönen und Guten ist, sondern auch der Grund der menschlichen Freiheit: Gott.
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