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Das Konklave von 2005

Wie die "Gruppe St. Gallen" versuchte, einen Gegenkandidaten zu Joseph Ratzinger aufzubauen.
Das  Konklave von 2005: Als Joseph Ratzinger zum Papst gewählt wurde
Foto: epa ansa Ettore Ferrari (ANSA) | "Mir ist, als fühle ich, wie seine [Johannes Pauls II.] starke Hand die meine hält", so Benedikt XVI. am Tag nach seiner Wahl zum Papst in seiner ersten Predigt.

Bei einem Konklave kann alles passieren. Nichts ist unmöglich. Allerdings gilt die Regel, dass, wer als Papst in ein Konklave hineingeht, als Kardinal wieder herauskommt. Stundenlang hatten die Gläubigen auf dem Petersplatz auf ein erstes Zeichen gewartet. Endlich. Als am Montag, 18. April, kurz nach 20.00 Uhr aus dem Kamin der Sixtina erste Rauchschwaden aufstiegen, schien das Warten ein Ende zu haben. Wie nach einem Schuss, wenn eine Schar von Tauben auffliegt, lief die Menge von überallher in die Mitte des Platzes. "Papa, Papa", riefen die Ersten. Andere blickten gebannt auf den Kamin oder die riesigen TV-Wände, die den Rauchfang in Großaufnahme zeigten. "Black or white?", rief eine Nonne im Vorbeilaufen. Die Angesprochenen zuckten mit den Schultern. Erkennbar pufften nun die ersten Orakelwolken in den römischen Himmel. Aber sie waren schwarz. Eindeutig. Und ein wenig betröppelt, wie nach einem Fußballspiel, bei dem die Heimmannschaft verloren hat, trotteten die Menschen zurück zu ihren Plätzen, nach Hause oder in eine der Bars, um sich von der Aufregung des Tages zu erholen.

Im ersten Wahlgang zeichnen sich zwei Favoriten ab

Nach Recherchen verschiedener Medien zeichneten sich in diesem ersten Wahlgang zwei Favoriten ab. Neben Ratzinger war es der emeritierte Kardinal Martini. Der Italiener erhielt angeblich ein oder zwei Stimmen mehr als der Deutsche. Das "Verbotene Tagebuch" des anonymen Wahlbeteiligten indes berichtete ein etwas anderes Ergebnis. Danach erhielt Ratzinger 47 Stimmen (40,9 Prozent), auf Platz zwei aber folgte der Argentinier Jorge Bergoglio mit 10 Stimmen. Auf Martini entfielen neun, auf Camillo Ruini, den Bischofsvikar von Rom, sechs Stimmen, auf Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano vier. Es folgten  scar Rodr guez Maradiaga, der Erzbischof von Tegucigalpa auf Honduras, mit drei und Dionigi Tettamanzi, Erzbischof von Mailand, mit zwei Stimmen. Mehr als 30 Stimmen verteilten sich auf andere Kardinäle. Das wichtigste Ergebnis aber war das schlechte Abschneiden des "progressiven" Flügels im Kardinalskollegium. Auch im "Verbotenen Tagebuch" ist der Versuch der "Gruppe St. Gallen" um Martini, Danneels, Lehmann und Kasper, eine Gegenkandidatur aufzubauen, Kernpunkt der Information. Die Verhinderung Ratzingers, so der angebliche Plan, hätte die Suche nach einem "Kompromisskandidaten" eröffnet. 1978 hatte das Verfahren funktioniert. Damals blockierte der Florentiner Benelli den Genuesen Siri   und gab so einem Polen die Chance, an beiden vorbeizuziehen.

Nach den Bestimmungen über die Papstwahlen durfte sich nach Mitternacht außer den Kardinälen niemand mehr im Gästehaus Santa Marta aufhalten. Die Nonnen waren in ihre Unterkünfte zurückgebracht worden. Die Sicherheitsleute wachten in ihren Autos vor der Unterkunft oder patrouillierten durch die vatikanischen Gärten. Im 50 Meter entfernten Palazzo San Carlo hatten zwei Ärzte Bereitschaftsdienst. Für den zweiten und dritten Wahlgang, die für Dienstagvormittag ab 9.30 Uhr angesetzt waren, wurden die Kardinäle mit Bussen zum Damasushof vor dem Apostolischen Palast gefahren. Dann ging es mit dem Lift in die erste Etage, um von hier zu Fuß die Capella Sixtina zu erreichen.

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Die Zahl der verstreuten Stimmen lichten

Es ist Dienstag, der 19. April, Gedenktag Leos IX., der von 1049 bis 1054 regierte und als Einziger unter den bisher sieben deutschen Päpsten heiliggesprochen wurde. Der Wahlgang vom Vortag diente dazu, zu sondieren, in der nun nachfolgenden zweiten Abstimmung ging es darum, die Zahl der verstreuten Stimmen zu lichten. Auf Ratzinger fielen dabei 65 Stimmen (56,5 Prozent), auf Bergoglio 35. Die Stimmen Ruinis waren auf Ratzinger übergegangen, Martinis Stimmen auf Bergoglio. Sodano behielt seine vier Stimmen, ebenso Tettamanzi seine zwei. Als um 11 Uhr der dritte Wahlgang begann, war klar, dass das Konklave zu einem Wettkampf zwischen zwei Favoriten geworden war: Joseph Ratzinger und Jorge Mario Bergoglio.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Martini angeblich die Parole gestreut, Ratzinger sei nicht geeignet, einen ausreichenden Konsens zu finden. Sollte sich sein Ergebnis nicht verbessern, werde der frühere Glaubenspräfekt sicherlich von selbst zurückziehen, um das Konklave nicht zu blockieren. Dadurch wäre der Weg frei für den erhofften Kompromisskandidaten. Tatsächlich konnte Ratzinger im dritten Wahlgang seinen Anteil jedoch auf 72 Stimmen ausbauen und kam damit nahe an die nötige Zweidrittelmehrheit heran. Auch Bergoglio konnte mit 40 Voten seinen Stimmenanteil noch einmal erhöhen, ausreichend, um mit einer Sperrminorität die Wahl zu blockieren. Damit wäre das Rennen wieder völlig offen. "Martini gehört zu jenen", notiert an dieser Stelle der Anonymus, "die für den Morgen des nächsten Tages einen völligen Austausch der Kandidaten vorhersagen".

Nicht Ratzinger begann freilich zu zögern, wie Martini gehofft hatte, sondern der Argentinier. Er habe zu verstehen gegeben, heißt es im "Anonymen Tagebuch", dass er nicht weiter zur Verfügung stehe. Im Rückblick erklärte Bergoglio in einem Interview mit der argentinischen Zeitung La Voz del Pueblo, er sei nicht wirklich ein Gegenkandidat zu Ratzinger gewesen. Gegenüber der britischen Zeitschrift Catholic Herald ergänzte er, er habe seine Anhänger aufgerufen, für den Kandidaten Joseph Ratzinger zu stimmen. Auch in seinem Interviewbuch Latinoamerica vom Oktober 2017 führte er aus, er habe damals gefühlt, dass die Zeit für einen lateinamerikanischen Papst noch nicht reif sei. Wörtlich sagte Franziskus in dem Buch: "In dem Moment der Geschichte war Ratzinger der einzige Mann mit der Statur, der Weisheit und der notwendigen Erfahrung, um gewählt zu werden."

"Sie sollten sich endlich ein anderes System überlegen"

Weil sowohl die Stimmzettel für den zweiten als auch für den dritten Wahlgang in einem Durchgang verbrannt werden, stieg erst gegen 11.50 Uhr wieder Rauch aus dem Schornstein der Sixtina auf. Aber welcher? Erneut dieselben Fragen, wild durcheinandergerufen: "nero" oder "bianco"? Minutenlang herrschte Unsicherheit. Mal wurde der Rauch dunkler, dann kam wieder eine vermeintlich helle Schwade aus dem Rohr. Der Korrespondent von agance france press schüttelte den Kopf: "Sie sollten sich endlich ein anderes System überlegen." Ein deutscher Radiokorrespondent brüllte in sein Handy: "Es sieht so aus, als wäre Ratzinger, der als Favorit gehandelt wurde, geblockt. Jetzt ist das Rennen wieder völlig offen."

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Das war es ganz und gar nicht. In Wahrheit stellte sich in der Mittagspause für viele Beteiligte nur noch die Frage, ob Ratzinger das Amt auch wirklich annehmen würde. Der Dekan saß wie die anderen an einem der runden Tische im Speisesaal des Gästehauses. Es gab keine Sitzordnung. "Als langsam der Gang der Abstimmung mich erkennen ließ, dass sozusagen das Fallbeil auf mich herabfallen würde", sollte er später sagen, "war mir ganz schwindelig zumute. Ich hatte geglaubt, mein Lebenswerk getan zu haben." Er habe dann "mit tiefer Überzeugung zum Herrn gesagt: Tu mir dies nicht an! Du hast Jüngere und Bessere, die mit ganz anderem Elan und mit ganz anderer Kraft an diese große Aufgabe herantreten können." Gleichzeitig kam ihm jedoch "ein Brieflein" in den Sinn ("es fiel mir ins Herz", meinte er wörtlich), das ihm im Vorfeld der 93-jährige Kardinal Augustin Mayer zugesteckt hatte. "Wenn der Herr nun zu Dir sagen sollte: ,Folge mir ", hieß es darin, "dann erinnere Dich, was Du gepredigt hast. Verweigere Dich nicht! Sei gehorsam, wie Du es vom großen heimgegangenen Papst gesagt hast."

Um 16 Uhr kehren die Kardinäle in die Sixtinische Kapelle zurück. Allen ist bewusst, dass dies der entscheidende Moment des Konklaves ist. Diesmal nimmt Ratzinger nicht mit den anderen den Bus, er möchte zu Fuß gehen. Sekretär Gänswein begleitet ihn. Gesprochen wird nicht. Was sollte er tun? Durfte er sich wirklich verweigern? War nicht auch Johannes XXIII. schon 78, als ihn die Kollegen in den Stuhl Petri hoben? Sophokles hat seinen Ödipus auf Kolonos mit 89 Jahren vollendet. Tizian war ein Greis, als er eines seiner beeindruckendsten Werke schuf: Die Dornenkrönung. "Sodann bitte ich denjenigen, der gewählt werden wird", hieß es in Nr. 86 der Bestimmung Johannes Pauls II., "sich dem Amt, zu dem er berufen ist, nicht aus Furcht vor dessen Bürde zu entziehen, sondern sich in Demut dem Plan des göttlichen Willens zu fügen. Gott nämlich, der ihm die Bürde auferlegt, stützt ihn auch mit seiner Hand, damit er imstande ist, sie zu tragen."

"Ich habe mein Gesicht verhüllt"
Kardinal Meisner

Bei der Auszählung der 115 Stimmzettel haben die Kardinäle weiße DIN-A4-Blätter mit den Namen der Teilnehmer vor sich liegen. Es beginnt der vierte Wahlgang, und immer häufiger fällt der Name Ratzinger. Zehn Striche, zwanzig, fünfzig. Ab 70 wird es spannend. Niemand spricht. Aber die meisten zählen mit und machen ihre Striche. Um 17.30 Uhr erkennen sie an ihrer Liste, dass das Quorum einer Zweidrittelmehrheit mit der mystischen Zahl 77 erreicht ist. Die 77, die Doppelung der heiligen Zahl 7. Sie steht für den Abschluss einer Reihe, für Vervollkommnung. 77 Namen verzeichnet der Stammbaum Jesu im Lukas-Evangelium, die Abstammungslinie Christi bis zu Adam. "Und Noach ging, bevor die Flut kam, in die Arche", heißt es wiederum in Genesis 7,7, "und mit ihm seine Söhne, seine Frau und die Frauen seiner Söhne."

Wie auch immer, in diesem Moment erheben sich die Kardinäle einer nach dem anderen, und das ganze Auditorium beginnt zu klatschen. Leise, dann immer lauter. "Ich habe mein Gesicht verhüllt", berichtete Meisner, "ich hab geheult vor Rührung. Und ich war nicht der Einzige." Wie groß die Nervosität des Gewählten selbst war, enthüllte er einen Tag später bei seiner ersten Predigt als Papst Benedikt XVI. in der Sixtinischen Kapelle: "Mir ist, als fühle ich, wie seine [Johannes Pauls II.] starke Hand die meine hält. Ich fühle, dass ich seine lächelnden Augen sehen und seine Worte hören kann, die in diesem Augenblick besonders an mich gerichtet sind: Hab keine Angst!"

Auszug aus Peter Seewalds Buch "Benedikt XVI. Ein Leben", Seiten 776-780

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