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Abt Stefano Visintin: Mönche sollen alles im Angesicht Gottes tun

Kloster statt Karriere. Eine Begegnung mit Abt Stefano Visintin in der italienischen Benediktinerabtei Praglia. 
Stefano Visintin
Foto: Alessandro Boscolo Agostini | Stefano Visintin hatte eine akademische Karriere geplant. Doch dann folgte er dem Ruf Gottes ins Kloster.

Der schlanke, mittelgroße Mann mit fast kahlem Schädel trägt eine Jeanshose mit Pullover. Aus der Hosentasche lugt ein Mobiltelefon hervor. Im Klausurbereich der Abtei Praglia in der italienischen Provinz Padua, der im 13. Jahrhundert um den „Paradies-Kreuzgang“ entstanden ist, zeigt er das Appartment des Abtes, über dessen Eingang, aus dunklem Holz geschnitzt, das Wappen der Abtei prangt: drei Hügel, überstrahlt von einem siebenzackigen Stern.

„Die Äbte waren früher Aristokraten, sie herrschten mit absoluter Macht“, sagt Steffano Visintin, als er den noblen Empfangssaal des Abtes mit offenem Kamin zeigt: An den Wänden allegorische Darstellungen der christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe. Teile des Mobiliars aus dunklem massiven Edelholz – „ich sage jetzt nicht welche“ – stammten aus dem 13. Jahrhundert. „Ja, wir hüten hier einige Schätze“, sagt Stefano Visintin.

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Ora et labora

Dass er Priester ist, macht das Kollarhemd unter dem Pullover deutlich. Kein anderes Zeichen jedoch weist jetzt am Nachmittag darauf hin, dass der 62-Jährige seit zwei Jahren Abt von Praglia ist.

Die Benediktinerabtei, am Fuß des Monte Lonzina westlich von Padua inmitten der Euganeischen Hügel gelegen, wurde im elften Jahrhundert gegründet. Die heutige Anlage stammt aus dem 16. Jahrhundert. Mit Fresken von Tizian- und Veronese-Schülern, einer Bibliothek, die zur offiziellen Liste der italienischen Kulturgüter gehört, ist sie eingebettet in eine grandiose Landschaft aus Weinbergen und Olivenhainen, die sich an den Hängen emporstaffeln. „Das benediktinische ,ora et labora‘ wird bei uns noch im Wortsinn gelebt“, sagt Abt Stefano. Einige seiner 40 Mitbrüder arbeiten in der klostereigenen Werkstatt zur Restaurierung historischer Handschriften, andere helfen bei der Herstellung oder dem Verkauf von Kosmetikprodukten.

Erst Physiker, dann Mönch

Als 29-Jähriger trat er den Benediktinern von Praglia bei. Zuvor hatte Visintin Nuklearphysik studiert, nach der Promotion war er Mitglied einer internationalen Forschungsgruppe, pendelte zwischen Italien und den Vereinigten Staaten. Geplant war eine wissenschaftliche Karriere. „Umwege sind oft nicht die leichtesten, aber manchmal die entscheidenden Wege“, sagt der Abt, nachdem er in einem etwas kleineren Saal Platz genommen hat. Er stamme aus einer „normal religiösen Familie. Der Kirchgang am Sonntag gehörte dazu“, erzählt Visintin. Er ist in Gorizia und dann in Muggia südlich von Triest aufgewachsen, an der Grenze zum Nachbarland Slowenien – mütterlicherseits hat er slowenische Wurzeln.

Zeit zum Nachdenken

„So ab 15“, sei er nicht mehr zur Messe gegangen, sagt Visintin. „Das Institutionalisierte, Gewohnheitsmäßige empfand ich damals als oberflächlich. Aber auch das, was ich dann mit den Gleichaltrigen machte – Kinobesuche, Fußball, Diskotheken – fühlte sich nicht wirklich erfüllend an.“ Nachdem er die Oberschule beendet hatte, leistete Visintin seinen Militärdienst bei der Marine ab. Da habe er viel Zeit zum Nachdenken gehabt: „Wer bin ich, was ist das Fundament meiner Existenz, was gibt meinem Leben Sinn? Solche Fragen bedrängten mich. Dann dachte ich an den Tod und es war, als risse ein Schleier.“

Sein Blick auf die Wirklichkeit, erzählt Visintin, habe sich schlagartig geändert. Das Studium der Physik erschien ihm damals als logische Folge seines Entschlusses, den Dingen auf den Grund zu gehen. „Die Physik gibt keine endgültigen Antworten, aber auch als Glaubender hat man letztlich mehr Fragen als Gewissheiten“, sagt Visintin. Die Physik und das Klosterleben bezeichnet der Mönch als verschiedene Wege zum gleichen Ziel.

Spirituelles Bild der Wirklichkeit

So radikal der Physiker in theoretischer Hinsicht forsche, so radikal sei der Lebensentwurf des Mönchs in praktischer Hinsicht. Es gebe auch sonst Parallelen, sagt Visintin: „Die heutige Physik gelangt zu einem sehr spirituellen Bild der Wirklichkeit.“ Die Welt erscheine dabei als ein Ineinander von Energien, sei mehr Beziehung als Materie. „Alles hängt mit allem zusammen – das ist auch die Botschaft von Papst Franziskus in seiner Enzyklika ,Laudato si‘, in der es um die Bewahrung der Schöpfung geht.“ Das große Unbekannte, dem die Physik auf der Spur sei, nenne er als Glaubender Gott, sagt Visintin. Als Mönch suche er dieses Letzte jetzt nicht mehr mit Zahlen und Modellen, sondern in der täglichen Praxis.

Die Benediktiner, sagt Visintin, habe er ausgewählt, weil das „ora et labora“ bete und arbeite –, die Regel des Gründervaters, in diesem Orden seit 1 500 Jahren in schlichter Rigorosität gelebt werde. „Ridurre all'osso“ nennt er diese Methode: Die Existenz auf das Wesentliche reduzieren. „Die Aufgabe des Mönchs ist die Gottsuche. Wenn es Gott gibt, ist er überall. Beten und Arbeiten bedeutet: alles im Angesicht Gottes zu tun.“ Diesem Ziel, sagt Visintin, werde bei den Benediktinern alles untergeordnet. „Wir fliehen nicht vor der Welt, weil es dort so viel Böses gibt.“ Es gehe um ein Abstandnehmen, um Konzentration: „Im Lärm, in der Hektik, geht die Mitte verloren.“

Meditative Gregorianik

Das Gespräch mit Dom Stefano dauert bereits eine Stunde. Am Beginn hat der Abt sein Mobiltelefon mit dem Bildschirm nach unten auf den Tisch gelegt. Zwischendurch, ohne das Handy einmal in die Hand genommen zu haben, erinnert der Abt daran, dass in Gorizia, seit dem Mittelalter Sitz der Grafen von Görz, die ihre Machtbasis zeitweise in Tirol hatten, Adelige und Künstler aus Tirol ihre Spuren hinterlassen haben: Dom Stefano hat sich gemerkt, dass sein Gesprächspartner vorhin erzählte, aus dem südlichen Tirol zu stammen.

Zur Vesper, die im Chor aus dem 16. Jahrhundert im Wechsel gesungen wird, trägt Abt Stefano wie seine Mitbrüder den schwarzen Habit; als Zeichen der Amtswürde hängt vor seiner Brust über dem bodenlangen Skapulier ein großes Silberkreuz. Die gregorianische Melodie klingt feierlich, das Hin und Her der Chorstimmen entfaltet einen meditativen Sog. Ohne Unterlass zu beten: Dem Auftrag der Christen versuchten die Benediktiner nachzukommen, indem sie sich täglich sieben Mal zum Beten treffen, hatte Dom Stefano am Nachmittag erklärt. „Die Zahl sieben symbolisiert die Vollkommenheit, daher die sieben Sterne im Wappen von Praglia.“ Natürlich sei das alles kein Spaziergang. Aber die Regel des heiligen Benedikt, der strukturierte Tag und die Disziplin, helfen bei der Gottsuche.

Inneres Training

Auch die heiligen, ehrfurchtgebietenden Worte, die ein Mönch täglich benutze, hätten eine wichtige Funktion, sagte Dom Stefano. Dabei handle es sich nicht um willkürliche Zeichen, um Geräusche, die wir beim Sprechen erzeugten. Die Worte enthielten vielmehr das Wesen der Dinge. Es mache schon einen Unterschied, erklärte der Abt, ob man fluche oder bete. Das Gebet forme den Betenden. „Wie der Körper des Athleten durch das Training immer fitter wird, trainieren wir den inneren Menschen.“ Doch auch der Körper sei wichtig, sagte Visintin, „er teilt dir viele Dinge mit“.

Allerdings dürfe man ihm nicht die Herrschaft überlassen. Konsum, Sexualität: der Körper kenne 1 000 Wege, um seine tyrannische Macht zu entfalten. „Auch wenn man ihn zum Feind erklärt, kann es sein, dass man seinem Diktat unterliegt.“

Eine Ahnung von der Gelassenheit, die das Herz des Mönchs erfüllen soll, erhält man beim gemeinsamen Abendessen im großen Refektorium. Brüder mit weißen Schürzen über dem Habit schenken jedem, der will, aus einer Blechkanne ein Viertel Rotwein ein. Die Speisen werden in Schüsseln weitergereicht. Dann klingelt Abt Stefano am Kopfende der U-förmigen Tafel mit einem silbernen Glöckchen, und während ein Bruder aus einer Heiligenvita vorliest, wird schweigend gegessen. Zwischendurch ertönt ein Wispern, man fängt ein amüsiertes Augenblitzen auf, ein verschworenes Lächeln.

Rekreation

Die Zeit vor der Komplet, mit der der Tag für die Mönche endet, dient der Rekreation. Ein Bruder erklärt Gästen, die ein paar Tage bleiben, einige Fresken, andere spazieren zu zweit oder zu dritt im Gang vor dem Refektorium auf und ab. „Jetzt kann ich es ja zugeben“, sagt Dom Stefano, an den Verfasser dieser Zeilen gerichtet. Er habe mit sich gerungen, ehe er sein Einverständnis zu unserem Treffen gab. „Unter einem Dach mit jemandem, der den Namen des Ketzers und Papstfeindes aus Eisleben trägt!“ Das sei ziemlich viel verlangt, meint Dom Stefano und wiegt in gespieltem Bedenken seinen Kopf. Mit breitem Grinsen, damit ein Missverständnis ausgeschlossen bleibt, fügt er hinzu: „Aber ich vertraue auf den Heiligen Geist – er wird uns schon beistehen!“

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