Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Mittwochskatechese des Papstes

Die Entdeckung der Gegenwart Gottes jenseits aller Grenzen

In seiner Mittwochskatechese spricht der Papst über den interreligiösen Dialog und erinnert an das Konzilsdokument Nostra aetate.
Papst Leo XIV
Foto: IMAGO/Maurizio Brambatti (www.imago-images.de) | Papst Leo XIV. bei seiner Generalaudienz am 29. Oktober 2025.

Im folgenden dokumentieren wir die Katechese bei der heutigen Generalaudienz von Papst Leo XIV.:

Liebe Brüder und Schwestern, Pilger im Glauben und Vertreter verschiedener religiöser Traditionen!

Diese Generalaudienz ist dem interreligiösen Dialog gewidmet. In den Mittelpunkt der heutigen Betrachtung möchte ich die Worte des Herrn Jesus an die Samariterin stellen: ‚Gott ist Geist und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten‘ (Joh 4,24). Im Evangelium offenbart diese Begegnung das Wesen eines authentischen religiösen Dialogs: einen Austausch, der entsteht, wenn Menschen sich einander mit Aufrichtigkeit, aufmerksamem Zuhören und gegenseitiger Bereicherung öffnen. Es ist ein Dialog, der aus Durst entsteht: aus dem Durst Gottes nach dem menschlichen Herzen und aus dem menschlichen Durst nach Gott. Am Brunnen von Sychar überwindet Jesus die Barrieren von Kultur, Geschlecht und Religion. Er lädt die Samariterin zu einem neuen Verständnis von Gottesdienst ein, der nicht auf einen bestimmten Ort beschränkt ist – „weder auf diesem Berg noch in Jerusalem“ –, sondern der im Geist und in der Wahrheit verwirklicht wird. Das erfasst den Kern des interreligiösen Dialogs: die Entdeckung der Gegenwart Gottes jenseits aller Grenzen – und die Einladung, ihn gemeinsam mit Ehrfurcht und Demut zu suchen.

Vor sechzig Jahren, am 28. Oktober 1965, eröffnete das Zweite Vatikanische Konzil mit der Erklärung ‚Nostra aetate‘ einen neuen Horizont der Begegnung, des Respekts und der spirituellen Gastfreundschaft. Dieses glorreiche Dokument lehrt uns, Anhänger anderer Religionen nicht als Fremde zu betrachten, sondern als Weggefährten auf dem Weg zur Wahrheit; Unterschiede zu würdigen, indem wir unsere gemeinsame Menschlichkeit bekräftigen; und in jeder aufrichtigen religiösen Suche ein Spiegelbild des einen göttlichen Geheimnisses zu erkennen, das die gesamte Schöpfung umfasst.

Mit dem Stamme Abrahams verbunden

Insbesondere darf nicht vergessen werden, dass die erste Ausrichtung von ‚Nostra aetate‘ auf die jüdische Welt gerichtet war, zu der Johannes XXIII. die ursprüngliche Beziehung wiederherstellen wollte. Zum ersten Mal in der Geschichte der Kirche sollte so eine Lehrschrift über die jüdischen Wurzeln des Christentums entstehen, die auf biblischer und theologischer Ebene einen Punkt ohne Wiederkehr darstellen sollte. ‚Das Volk des Neuen Bundes ist mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden. So anerkennt die Kirche Christi, dass nach dem Heilsgeheimnis Gottes die Anfänge ihres Glaubens und ihrer Erwählung sich schon bei den Patriarchen, bei Moses und den Propheten finden“ (NA, 4). Dementsprechend verurteilt die Kirche, im Bewußtsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, nicht aus politischen Gründen, sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben“ (ebd.). Seitdem haben alle meine Vorgänger den Antisemitismus mit klaren Worten verurteilt. Und so bekräftige auch ich, dass die Kirche den Antisemitismus nicht duldet und ihn aufgrund des Evangeliums selbst bekämpft.

Heute können wir mit Dankbarkeit auf alles blicken, was in den letzten sechs Jahrzehnten im jüdisch-katholischen Dialog erreicht wurde. Dies ist nicht nur menschlichem Bemühen zu verdanken, sondern auch der Hilfe unseres Gottes, der nach christlicher Überzeugung selbst Dialog ist. Wir können nicht leugnen, dass es in dieser Zeit auch Missverständnisse, Schwierigkeiten und Konflikte gab, die jedoch die Fortsetzung des Dialogs nie verhindert haben. Auch heute dürfen wir nicht zulassen, dass politische Umstände und Ungerechtigkeiten einiger weniger uns von der Freundschaft abbringen, vor allem weil wir bisher viel erreicht haben.

Für einen spirituellen Dialog

Der Geist von Nostra aetate erleuchtet weiterhin den Weg der Kirche. Sie erkennt an, dass alle Religionen „nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet“ (Nr. 2) und Antworten auf die großen Geheimnisse des menschlichen Daseins suchen, so dass der Dialog nicht nur intellektuell, sondern zutiefst spirituell sein muss. Die Erklärung lädt alle Katholiken – Bischöfe, Kleriker, Ordensleute und Laien – ein, sich aufrichtig am Dialog und an der Zusammenarbeit mit den Anhängern anderer Religionen zu beteiligen und alles Gute, Wahre und Heilige in ihren Traditionen anzuerkennen und zu fördern (vgl. ebd.). Dies ist heute praktisch in jeder Stadt der Welt notwendig, wo aufgrund der Mobilität der Menschen unsere spirituellen Unterschiede und Zugehörigkeiten vor der Herausforderung stehen, aufeinander zu treffen und geschwisterlich zusammenzuleben. Nostra aetate erinnert uns daran, dass der wahre Dialog seine Wurzeln in der Liebe hat, der einzigen Grundlage für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung, während er jede Form von Diskriminierung oder Verfolgung entschieden ablehnt und die gleiche Würde jedes Menschen bekräftigt (vgl. NA, 5).

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Also fragen wir uns, liebe Brüder und Schwestern, sechzig Jahre nach Nostra Aetate: Was können wir gemeinsam tun? Die Antwort ist einfach: Gemeinsam handeln. Mehr denn je braucht unsere Welt unsere Einheit, unsere Freundschaft und unsere Zusammenarbeit. Jede unserer Religionen kann dazu beitragen, menschliches Leid zu lindern und für unser gemeinsames Zuhause, unseren Planeten Erde, zu sorgen. Unsere jeweiligen Traditionen lehren Wahrheit, Mitgefühl, Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden. Wir müssen uns jederzeit von neuem zum Dienst an der Menschheit bekennen. Gemeinsam müssen wir wachsam sein gegen den Missbrauch des Namens Gottes, der Religion und des Dialogs selbst sowie gegen die Gefahren, die von religiösem Fundamentalismus und Extremismus ausgehen. Wir müssen uns auch mit der verantwortungsvollen Entwicklung der Künstlichen Intelligenz befassen, denn wenn sie als Alternative zum Menschen konzipiert wird, kann sie dessen unbegrenzte Würde schwer verletzen und seine grundlegenden Verantwortlichkeiten neutralisieren. Unsere Traditionen können einen immensen Beitrag zur Humanisierung der Technik leisten und damit zu ihrer Regulierung zum Schutz der grundlegenden Menschenrechte inspirieren.

Eine neue Welt ist möglich

Wie wir alle wissen, lehren unsere Religionen, dass Frieden im Herzen des Menschen beginnt. In diesem Sinne kann die Religion eine grundlegende Rolle spielen. Wir müssen die Hoffnung in unser persönliches Leben, in unsere Familien, in unsere Nachbarschaften, in unsere Schulen, in unsere Dörfer, in unsere Länder und in unsere Welt zurückbringen. Diese Hoffnung gründet sich auf unsere religiösen Überzeugungen, auf die Überzeugung, dass eine neue Welt möglich ist.

Nostra aetate hat vor sechzig Jahren der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg Hoffnung gebracht. Heute sind wir aufgerufen, diese Hoffnung in unserer vom Krieg zerstörten Welt und in unserer zerstörten Umwelt wieder aufzubauen. Lasst uns zusammenarbeiten, denn wenn wir vereint sind, ist alles möglich. Lasst uns dafür sorgen, dass nichts uns trennt. In diesem Sinne möchte ich euch noch einmal für eure Anwesenheit und eure Freundschaft danken. Lasst uns diesen Geist der Freundschaft und Zusammenarbeit auch an die nächste Generation weitergeben, denn er ist die wahre Säule des Dialogs. Und nun halten wir einen Moment inne, um still zu beten: Das Gebet hat die Kraft, unsere Einstellungen, unsere Gedanken, unsere Worte und unsere Taten zu verändern.

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