Drei Jahre lang hat ein Team um den Historiker Marc von Knorring sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige durch katholische Geistliche im Bistum Passau im Zeitraum von 1945 bis 2022 untersucht. Nun hat das Bistum die 402 Seiten umfassende Studie veröffentlicht: Rund 700 Kinder und Jugendliche wurden in den untersuchten Jahrzehnten Opfer sexueller Übergriffe, insgesamt 154 Welt- und Ordenspriester wurden beschuldigt oder ihrer Schuld überführt. In einer Videobotschaft reagierte Passaus Bischof Stefan Oster betroffen. „Voller Scham“ bekannte er, dass Verantwortliche in der Kirche „massiv versagt“ hätten. Er könne nur „mit großer Hilflosigkeit um Verzeihung bitten, weil vieles einfach nicht wieder gutzumachen ist“.
Den größten Skandal, betonte Oster, stelle jedoch nicht allein das Ausmaß der Taten dar, sondern die Haltung vieler Entscheidungsträger: Man habe die Institution Kirche schützen wollen, Tätern gegenüber Nachsicht gezeigt und sei vor allem „blind für die betroffenen Kinder und Jugendlichen“ gewesen. Drei Begriffe fasste der Bischof als zentrale Problemlagen zusammen: eine „Kultur des Schweigens“, die „Überhöhung des Priesteramts“ und die „Missachtung des Leids der Betroffenen“. Missbrauchstaten seien vertuscht oder verharmlost worden – sei es aus Loyalität zur Institution oder aufgrund eines überhöhten Amtsverständnisses.
„Entmystifizierung von Person und Amt des Priesters“
Vor diesem Hintergrund forderte Guido Pollack, Vorsitzender der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in Passau, eine „Entmystifizierung von Person und Amt des Priesters“. Zugleich stellte er die Frage, wie weit sich Bischof Oster angesichts des heutigen Wissens „kirchlicher Machtausübung öffentlicher Transparenz und unabhängiger Kontrolle“ unterwerfe. Seine Vorgänger – die Studie nimmt insbesondere Bischof Franz Xaver Eder sowie dessen Mitarbeiter Peter Geyer und Lorenz Hüttner in den Blick – seien noch deutlich weniger über psychologische und soziologische Zusammenhänge informiert gewesen, so Pollack.
Auch Studienleiter Knorring betonte strukturelle Ursachen. Er sprach von tief verankerten „Denk- und Handelsweisen innerhalb des Systems Kirche“, die Missbrauch begünstigt hätten. Viele Betroffene litten „ihr Leben lang an den körperlichen und seelischen Folgen des Missbrauchs“. Nach den Grundwerten der katholischen Kirche hätten diese Taten niemals geschehen dürfen, fügte er hinzu.
Aufarbeitung und Prävention auf gutem Weg
Die Studie benennt jedoch nicht nur kirchliche Täter und Verantwortliche. Sie verweist auch auf sogenannte „Bystander“ aus dem nichtkirchlichen Bereich – Menschen, die Warnsignale wahrgenommen hätten, „sich aber aus vielerlei Gründen nicht aus der Deckung“ getraut hätten, wie Oster formulierte. Dazu zählen unter anderem Fachkräfte aus Jugend- und Schulämtern, Richter, Staatsanwälte und medizinische Gutachter.
Gleichzeitig zeigt die Untersuchung, dass in den letzten Jahren Fortschritte erzielt wurden. Seit der Jahrtausendwende und besonders seit 2010 habe sich bei Meldewegen, Aufarbeitung und Prävention „viel getan“, sagte Knorring. Dennoch bleibe „noch viel zu tun“. Oster betonte in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit eines „noch stärkeren Kulturwandels“ im Bistum. Es gehe darum, „auf verwundbare Personen gut zu achten und an ihrer Seite zu stehen“. Die Kirche sei „schon heute ein sicherer Ort geworden“, an dem man kontinuierlich weiterarbeite.
Das Forschungsteam arbeitete seit Herbst 2022 an der Studie, laut Bistum „vollkommen unabhängig und eigenständig“. Beteiligt waren zwei Historiker sowie die Kirchenhistorikerin Anna Matschl, die später als alleinige Mitarbeiterin und Co-Autorin fungierte. Begleitet wurden die Arbeiten von der Unabhängigen Aufarbeitungskommission und dem Betroffenenbeirat des Bistums. Finanziert wurde das Projekt durch den Bischöflichen Stuhl des Bistums Passau. (DT/dsc)
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