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Wo wurde Jesus gekreuzigt?

Die Jerusalemer Grabeskirche ist wirklich der Ort der Kreuzigung und Grablegung Christi, meint der französische Exeget Olivier-Thomas Venard. Von Oliver Maksan
Blick von der Erlöserkirche auf die Grabeskirche in Jerusalem
Foto: Jörg Schmitt | Blick von der Erlöserkirche auf die Grabeskirche in Jerusalem, aufgenommen am 12. Mai 1998. Die weitläufige Grabeskirche ist über der vermuteten Kreuzigungs- und Grabstätte Jesu Christi angelegt.

Wurde Jesus ausweislich des Neuen Testament nicht in der Nähe, aber doch außerhalb der Stadt Jerusalem gekreuzigt? Kann die heutige Grabeskirche, die inmitten der Altstadt liegt und von allen Seiten umbaut ist, dann wirklich Ort der Kreuzigung und Grablegung sein? Ja, meint Pater Olivier-Thomas Venard, Professor für Neues Testament an der Ecole Biblique, der Hochschule der Dominikaner in Jerusalem. Er ist sich sicher, dass man mit besten archäologischen Gründen die auf Kaiser Konstantin zurückgehende Grabeskirche als die historische Stelle des Karfreitagsgeschehens annehmen darf.

Der Widerspruch bezüglich der Lage des Hinrichtungsortes Christi

Bei einem Vortrag in der Ecole Biblique schloss er sich kürzlich dem in dieser Hinsicht bestehenden archäologischen Konsens an. Der offensichtliche Widerspruch zwischen Neuem Testament bezüglich der Lage des Hinrichtungsortes Christi „außerhalb der Stadt“ und der heutigen Grabeskirche lasse sich leicht auflösen. Denn zur Zeit Jesu sei die Stadtmauer im Gebiet der Grabeskirche schlicht anders verlaufen. Erst unter Herodes Aggripa I. in den Jahren 41 bis 44 sei die dritte Jerusalemer Stadtmauer gebaut worden. Damit sei Golgota, ein zur Zeit Jesu wegen seiner zuletzt schlechten Qualität bereits aufgelassener, nah außerhalb der alten Mauer liegender Steinbruch, innerhalb der Mauern der so erweiterten Stadt zu liegen gekommen. Im Bereich der Grabeskirche gefundene und in ihrem Inneren zu besichtigende Gräber aus der Zeit Christi belegten dies. Denn nach jüdischem Gesetz durften Tote nie innerhalb der Stadt beigesetzt werden. Sie mussten also vorher dort begraben worden sein.

Golgota oder „Gartengrab“?

Doch ist damit Golgota nur ein möglicher Ort. Seine Historizität ist so noch nicht belegt. Konkurrenten wie etwa das im 19. Jahrhundert entdeckte und vor allem von Protestanten favorisierte „Gartengrab“ nördlich der heutigen Stadtmauer erfüllen die topografischen Kriterien des Neuen Testaments – in der Nähe und doch außerhalb der Stadt, erhobene, belebte Stelle, nahe einem Garten mit privaten Gräbern – ebenso. Warum also wählten Konstantins Baumeister im vierten Jahrhundert gerade dieses Gelände, um eine Basilika zu errichten, auf deren Überresten sich die heutige Kirche erhebt? Konnten sie sich auf eine christliche Überlieferung berufen?

Geht es nach einem Bericht des Eusebius von Cäsarea, des großen Kirchenhistorikers des vierten Jahrhunderts, wohl nicht. Dort heißt es, man habe den in Vergessenheit geratenen Ort „dank göttlicher Eingebung“ entdeckt. Kritiker sehen dies als direkten literarischen Hinweis auf ein theologisches Feigenblatt für eine historische Blöße: Man habe Anfang des vierten Jahrhunderts, also dreihundert Jahre nach dem Karfreitag, eben nicht mehr gewusst, wo der Kreuzigungsort gewesen sei. Das lokale Wissen um die Stelle sei im Laufe der Zeit schlicht verloren gegangen.

Die Jerusalemer Erzählüberlieferung

Die Mehrheit der Archäologen fasst die Formulierung des Eusebius indes gegenteilig auf: Die bestehende Ortsüberlieferung habe fiktiv als abgebrochene dargestellt werden müssen, um den Ort und seine „Entdecker“ literarisch aufzuwerten. Literarische Parallelen für solche Fiktionalisierungen ließen sich beibringen. Doch wie steht es um die Möglichkeit einer drei Jahrhunderte überdauernden Jerusalemer Erzählüberlieferung? Seit den dreißiger Jahren des 2. Jahrhunderts lag das behauptete Gelände der Kreuzigung und Grablegung Christi nämlich unter dem von Kaiser Hadrian durch Aufschüttung angelegten Tempelbezirk der von ihm konsequent paganisierten Stadt, war also unsichtbar geworden. Dennoch konnte Melito von Sardes Mitte des zweiten Jahrhunderts in einer Homilie behaupten, Jesus sei „in der Mitte Jerusalems“ gekreuzigt worden. Der ortsunkundige Grieche, einer der ersten Jerusalempilger überhaupt, habe diese den Evangeliumsberichten widersprechende Aussage nur deshalb machen können, weil er sich auf eine christliche Ortstradition stützen konnte, nach der der einst außerhalb der Stadt gelegene Kreuzigungsort nunmehr innerhalb derselben zu finden sei.

Doch wie alt konnte eine solche Überlieferung sein? Konnte eine auf die Anfänge zurückgehende Ortstradition auch die Zerstörung Jerusalems durch die Römer 70 nach Christus überstanden haben? Lebten Christen, die als Überlieferungsträger in Frage kämen, danach in der Stadt? Ja, meinen die Befürworter. Eusebius überliefere seit 35 und damit auch für die kritische Zeit zwischen 70 und 135 ununterbrochene Abfolgen judenchristlicher Bischöfe in Jerusalem.

Die frühen Christen hätten zudem ein Interesse an der Verehrung des Grabes Christi gehabt. Dies habe schlicht der vielfach belegten Praxis der Verehrung von Heiligengräbern im frühen Judentum entsprochen. Das Felsgrab Jesu habe die notwendige rituelle Reinigung für die Stadterweiterung unter Herodes Aggripa zudem unbeschadet überstehen können. Weiterbestehende monumentale Gräber jüdischer Herrscher innerhalb der dritten Mauer seien ein Beispiel dafür.

Erst auf das vierte und fünfte Jahrhundert gehen Deutungen christlicher Autoren zurück, wonach Hadrian seinen Tempelbezirk bewusst über einem jüdisch-christlichen Heiligtum – die Römer hätten hier nicht genau zu unterscheiden vermocht – errichten ließ, um das Gedächtnis daran auszulöschen und den Triumph Roms deutlich zu machen. Damit wäre die pagane Anlage über dem Grab Christi ein direkter Hinweis auf es. Wegen bestehender Lokaltraditionen hätten Konstantins Architekten unter dem Tempelbezirk Hadrians nach dem Grab Christi gesucht und seien schließlich fündig geworden.

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