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Marius Reiser: Das Geheimnis richtig deuten

Der Theologe Marius Reiser untersucht Geschichten des Neuen Testaments auf ihren historischen Gehalt. Das sei notwendig, um dann die richtigen Schlüsse über den symbolischen Inhalt zu ziehen.
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Foto: imago stock&people (imago stock&people) | Eine Ikone der Verklärung Christi. Der Theologe Marius Reiser sieht den biblischen Bericht als historische Erzählung.

Der Sohn Gottes ist mit seiner Menschwerdung eine eigene Geschichte und ein eigenes Schicksal auf Erden eingegangen. Für alle Zeiten entscheidet sich seitdem das ewige Schicksal des Menschen an seiner Haltung diesem Ereignis gegenüber. Darum ist die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der neutestamentlichen Zeugnisse für den Glauben von zentraler Bedeutung. Der Neutestamentler Marius Reiser untersucht in dem Band „Und er wurde vor ihren Augen verwandelt“ ausgewählte Geschichtserzählungen des Neuen Testaments auf ihren historischen Wahrheitsgehalt hin.

Rückfragen überflüssig

In den Kapiteln drei bis fünf, die an anderer Stelle bereits publiziert wurden, wird jeweils nach der geschichtlichen Glaubwürdigkeit der Weihnachtsgeschichte bei Lukas und Matthäus, der Verklärung Jesu und der in der Apostelgeschichte berichteten Schiffsreise des Apostels Paulus von Caesarea bis zum Schiffbruch vor Malta gefragt. In den Kapiteln eins und zwei, bei denen es sich um Erstveröffentlichungen handelt, werden das Problem des historischen Ereignisses und seiner Darstellbarkeit sowie das Verhältnis von Fiktion und Wahrheit grundsätzlich erörtert.

Historische Darstellungen können nach Meinung des Verfassers nicht gänzlich auf „kreative Rekonstruktionen” und „fiktive Elemente” verzichten. Sind diese fiktiven Anteile ermittelt, so könne ihr spezifischer Wahrheitsgehalt „symbolisch, metaphorisch oder allegorisch” erhoben werden. Dieses Verfahren setze aber die methodische Anstrengung voraus, zuerst nach den historischen Fakten zu fragen. Demgegenüber hielten die Exegeten heute zumeist sämtliche biblischen Erzählungen „ohne Rücksicht auf die möglichen oder tatsächlichen historischen Elemente darin“ für rein fiktional. Damit würden sie alle zu einer „Art eigenständiger Gleichnisse“, denen man dann mit dem exegetischen Instrumentarium zu Leibe rücke. Rückfragen nach möglicher Historizität gelten als überflüssig.

Historischer Kern

Exemplarisch demonstriert der Verfasser seinen Lösungsansatz an den beiden neutestamentlichen Geburtsgeschichten Jesu. Für Reiser sind sie „stark symbolische Erzählungen mit einem historischen Kern“. Während die Exegeten heute der Verklärungsgeschichte Jesu mehrheitlich jede Historizität absprechen, erweist sie sich für Reiser als durchaus authentisch. Was die Seereise des Paulus betrifft, so gelingt Reiser der überzeugende Nachweis, dass es sich keineswegs um eine fiktive Reisebeschreibung handle, sondern um ein „Glanzstück in historischer Korrektheit“, wie es der Historiker Eduard Meyer einst ausgedrückt hatte. Anhand dieser drei so unterschiedlichen Ergebnisse wird erwiesen, dass es notwendig ist, jede Geschichtserzählung des Neuen Testaments für sich zu untersuchen: das heißt, jeweils neu die Frage nach dem Verhältnis von Fiktionalität und Authentizität zu stellen.

Der Verfasser schließt daraus, dass es ein Spektrum von neutestamentlichen Geschichtserzählungen gibt: Mit den stark symbolischen Geburtsgeschichten um einen historischen Kern herum auf der einen Seite, und dem kaum stilisierten Reisebericht des Paulus in der Apostelgeschichte auf der anderen Seite. Jede Erzählung müsse in dieses literarische Spektrum eingeordnet werden. Jeder Exeget sollte laut Reiser sein Vorverständnis offenlegen, mit dem er an die Texte herangeht. Dazu gehöre auch die Antwort auf die Frage ob er „mit einer überirdischen Regie und einem Eingreifen dieser Regie in das Weltgeschehen rechnet oder nicht.“

Keine Quelle für Nazareth

Zur Weihnachtszeit passen die Einsichten Reisers über Dichtung und Wahrheit in den Weihnachtserzählungen der Evangelien. An der Historizität der Reise nach Bethlehem und der Davidstadt als Geburtsort hält Reiser fest: Die Darstellung des Evangelisten Lukas ist „durchaus realistisch, auch wenn hinsichtlich des genauen Geburtsdatums Jesu und der konkreten Steuererhebung, die Josef und Maria von Nazareth nach Bethlehem führte, einiges unklar bleiben muss.“ Darüber hinaus nenne keine historische Quelle Nazareth als Geburtsort. Deutlich stelle Lukas mit der antithetischen Gegenüberstellung von Christus und Kaiser Augustus die Geburtsgeschichte in den weltgeschichtlichen Kontext.

In der Kontroverse über den Text des Gloria spricht sich Reiser für das „Wohlgefallen“ aus. Seine Übersetzung lautet: „Verherrlicht wird Gott in der Höhe und auf Erden, / Friede herrscht unter den Menschen seines Wohlgefallens.“ Weil eine symbolische Deutung eben noch lange keine fiktive Deutung sei, lautet sein Fazit hinsichtlich der lukanischen Geburtsgeschichte, dass sie so wahr sei, „wie das, was die Engel in ihr verkünden“. Angesichts der vielfach auf reinen Humanismus reduzierten Krippenspiele an Heiligabend kann man der Aussage des Verfassers nur bedingt zustimmen, dass „eher die aktualisierenden Krippendarstellungen, die das Geschehen kühn in die eigene Zeit und Welt übersetzten“, der symbolischen Wahrheit gerecht würden. Die von ihm angeführten bekannten literarischen Meisterwerke der Kirchenväter, von Romanos dem Meloden, Dorothy Sayers und Chesterton haben eben kaum Schule gemacht.

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Was sie vereint, ist das Paradox „kleines Kind, ewiger Gott”. Aber gerade diese Wahrheit vom Kind in der Krippe als Gott von Sein und Wesen wird heutzutage konsequent umgangen. Allen Versuchen, den Stern von Bethlehem aus dem Matthäusevangelium astronomisch zu erklären, nähmen ihm, nach Reiser, „seinen Symbolcharakter und damit den theologischen Gehalt“.

Insgesamt bleibt der Verfasser, was den historischen Kern des Berichtes betrifft, eher vage: „Eine gewisse historische, insbesondere kulturgeschichtliche Realistik kann man unserer Geschichte also nicht absprechen“. Dass die neue Einheitsübersetzung die Anbetung der Sterndeuter durch eine bloße Huldigung ersetzt, wird mit guten Gründen abgelehnt: „Die Rede von der Huldigung soll gerade ausschließen, dass es sich um eine Anbetung handelt“. Bei der Deutung der Gaben der Weisen orientiert sich Reiser an den Kirchenvätern: „Gold als Hinweis auf die Königswürde Jesu, den Weihrauch als Hinweis auf seine Gottheit, die Myrrhe als Hinweis auf seine Sterblichkeit als Mensch, speziell seinen Sühnetod“.

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Zuzustimmen ist der Aktualisierung der frühchristlichen Deutung der ermordeten Unschuldigen Kinder, man dürfe dabei auch „an die grauenhaft hohe Zahl von Abtreibungen denken, die in den westlichen Ländern vorgenommen werden“. Sowohl die theoretischen Ausführungen von Reiser wie auch seine Schriftauslegung bieten zahlreiche Argumente, um verbreitete exegetische Denkverbote in Frage stellen zu können.

Auf der Basis der bewahrten historischen Wahrheit der Menschwerdung Gottes wird auch ihre symbolische Deutung zur Ermöglichung einer kreativen Aneignung der Glaubenswahrheit für die Gegenwart.


Marius Reiser
„Und er wurde vor ihren Augen verwandelt“.
Fiktion und Wahrheit in neutestamentlichen Geschichtserzählungen.
Verlag Herder, Freiburg, 2021, 254 Seiten,
ISBN 978-3-451-39160-628, EUR 28, –

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