Liebe Leserinnen und Leser,
„O Wurzel Jesse“: Diese Antiphon lenkt den Blick auf Jesu Herkunft und zugleich weit darüber hinaus. Sie ruft auch die Menschen dazu auf, über ihre eigene, überirdische Herkunft und Bestimmung nachzudenken. Im Bild betrachten wir heute eine hochschwangere Maria aus dem 16. Jahrhundert.
Einen gesegneten 19. Dezember wünscht Ihnen
Ihre Franziska Harter
Chefredakteurin
Unsere Weihnachtsbeilage finden Sie übrigens hier:
MIT DER BIBEL DURCH DEN ADVENT
Tageslesungen:
Ri 13,2–7.24–25a
Lk 1,5–25
O Wurzel Jesse
Jesus Christus hatte menschliche Vorfahren. Aber er ist mehr als ein Nachfahre: Er ist die Erfüllung der Erwartung des Volkes Gottes Von Weihbischof Matthias König
„Roots“ – so heißt eine Ende der 1970er-Jahre ausgestrahlte amerikanische Fernsehserie, die auch in Deutschland hohe Einschaltquoten erzielte. Sie berichtet über Generationen einer Familie schwarzafrikanischer Sklaven. Der Vorfahre, Kunta Kinte, wurde in Westafrika verschleppt, überlebte die Überfahrt auf einem der berüchtigten Sklavenschiffe nach Nordamerika und wurde dort an einen Baumwollfarmer verkauft. Diese Serie löste damals in den USA einen Boom aus: Auf einmal fragten viele Menschen nach ihren familiären Wurzeln. Die Motivation? „Ich hänge mit meiner Existenz nicht in der Luft, sondern verdanke mein Dasein anderen Menschen.“
„O Spross aus Isais Wurzel …“ So beginnt die Antiphon zum Magnificat, dem großen Lobgesang Mariens (Lk 1,46–55) im Abendgebet der Kirche. Dem Evangelisten Matthäus war es am Anfang seiner frohen Botschaft wichtig, den Stammbaum Jesu aufzuführen (Mt 1,1–17). Der Evangelist wollte zeigen, aus welchen weltlichen Wurzeln der menschgewordene Sohn Gottes hervorgeht. Neben dem Stammvater Abraham war vor allem die Abstammung von Isai, dem Vater des Königs David, wichtig.
Hier auch zum Anhören:
Jesus ist „aus dem Geschlecht Davids“. Er steht in der Kontinuität des großen Mannes, der Israel zusammengeführt hat. Jesus steht in einer Reihe mit den Ahnen, die das wunderbare Handeln Gottes am eigenen Leib und Leben erfahren haben und damit den Nachfahren Mut machen, sich selbst ganz und gar Gott anzuvertrauen.
Jesus ist allerdings mehr als nur ein „Nachfahre“. Jesus ist die Erfüllung der Erwartung des alttestamentlichen Gottesvolkes. In ihm kommt das Heil in die Welt. Darum kann diese O-Antiphon im Blick auf die Wurzel der Heilshoffnung flehentlich, aber vor allem zuversichtlich bitten: „O Spross aus Isais Wurzel, gesetzt zum Zeichen für die Völker – vor dir verstummen die Herrscher der Erde, dich flehen an die Völker: O komm und errette uns, erhebe dich, säume nicht länger.“
Der Autor ist Weihbischof im Erzbistum Paderborn.
WEIHNACHTEN IM BILD

Madonna in der Hoffnung
Das Glück der Schwangerschaft und das Mysterium des Lebens sind im Advent als große Wunder erfahrbar Von José García
Advent – schon im etymologischen Ursprung des lateinischen „adventus“ schwingt die Erwartung mit, die den Charakter dieser liturgischen Zeit prägt: Ursprünglich kündete der Begriff von der Ankunft eines römischen Kaisers oder Statthalters, doch mit dem Christentum wurde daraus Hoffnung auf die Ankunft Gottes. Der Advent ist eine Zeit gespannter Erwartung auf die Geburt Jesu; Hoffnung wird in Maria zur leibhaftigen Gegenwart – das Wort wurde nicht erst in der Heiligen Nacht Fleisch, sondern in dem Augenblick ihres Ja-Wortes gegenüber dem Engel Gabriel. Darum feiert die Kirche am 25. März, am Fest der Verkündigung, die Menschwerdung Gottes.
Wie jede Mutter trug Maria ihr Kind neun Monate „unter ihrem Herzen“ – sie war, im schönsten Sinn des Wortes, „in guter Hoffnung“. In der Kunstgeschichte spiegelt sich dieses Geheimnis in der einprägsamen Darstellung der „Madonna in der Hoffnung“, der „Maria gravida“. Um 1300 entstand diese Ikonografie im süddeutschen Raum sowie in Böhmen und entwickelte sich zu einem zarten Andachtsmotiv: Mal durch die Andeutung eines gewölbten Bauchs, mal als leuchtendes IHS-Monogramm oder als „Platytera“-Ikone, in der das göttliche Kind als helle Scheibe vor der Brust erscheint.
Eine besonders anrührende Interpretation bietet die um 1520 im niederbayerischen Raum aus Lindenholz geschnitzte Plastik. Sie zeigt Maria als jugendliche Gestalt, mit leicht nach vorn gesetztem Schritt, gerötetem Antlitz und einem nach innen gekehrten Blick. Kein Stern, kein Schleier, keine Himmelsboten – nur die ausdrucksvolle Gebärde: Die gefalteten Hände ruhen schützend über ihrer gerundeten Leibesmitte. Die Figur verrät ihre Identität nicht durch äußere Attribute, sondern durch das behutsame Bewahren und Verhüllen.
Dann folgt die radikale Offenbarung: In der Mitte des Körpers öffnet sich eine kleine, rechteckige Nische – darin ein winziger Knabe, segnend, die Weltkugel in Händen. Maria als lebendiger Tabernakel. Der geöffnete Leib erinnert an Ultraschallbilder, verweigert jedoch jede illusionistische Anatomie. Hier ist nicht Biologie, sondern Theologie am Werk: Von Anfang an wahrer Gott und wahrer Mensch.
So stellt diese feingliedrige Figur heute eine verstörende Frage: Sind wir noch empfänglich, damit Gott „unter unserem Herzen“ Wohnung einnehmen kann? Madonna in der Hoffnung – das ist nicht nur ein Motiv der Marienikonografie, sondern ein zeitloses Programm. Es lädt ein, offen zu bleiben für sein Kommen. Alle Jahre wieder.
Der Autor ist Historiker und schreibt aus Berlin über Kunst und Kultur.
ADVENTLICHE KLÄNGE
Meine, deine, unsere Wurzeln
Auch Josef, der Nährvater Jesu, ist als vorletzter Zweig Teil der Wurzel Jesse, Teil der großen Christus-Genese Von Barbara Stühlmeyer
Für Wurzeln interessieren sich heute viele. Der Markt der DNA-Tests boomt. Manch einer erlebt dabei eine böse Überraschung. Nicht nur der ehemalige Erzbischof von Canterbury fand auf diese Weise heraus, dass der Mann, den er Vater nannte, biologisch nichts mit ihm zu tun hatte. In Zeiten der Selbstidentifikation überspringen einige den Schritt, herauszufinden, woher sie kommen, sogar ganz und definieren sich auch in dieser Hinsicht selbst. In der Heiligen Schrift spielt Abstammung eine große Rolle. Die Genealogien des Neuen Testaments bezeugen, welch hohen Wert man der ungebrochenen Linie, die von Jesus bis zu David führt, beimaß. Und doch verbindet sich mit diesem Stammbaum ein Paradox. Denn der vorletzte Zweig, der hier genannt wird, ist Josef, der Nähr-, nicht der leibliche Vater Jesu. Offenbar geht es bei dieser Verbindung mit der tragenden Wurzel also um mehr als um Gene.
Eine gute Nachricht, denn hier wird eine Form der Verbundenheit thematisiert, die den Rahmen der Biologie weit überschreitet. Es ist eines der befreienden Merkmale der Christen, Menschen aller Rassen und Sprachen, aller Schichten und Gruppen willkommen zu heißen. Geliebt, angesprochen zu sein, geschieht ohne jede Vorbedingung. Was also bedeutet das alte Bild von der Wurzel Isais, deren Spross zum Zeichen der Völker gesetzt ist und von dem der Sänger Antiphon die Rettung erbittet? Es verweist darauf, dass Anfang und Ende der Geschichte des menschlichen Lebens in Gottes sanften Händen geborgen sind. Die Wurzel steht dabei für das, was das Wort Religion beinhaltet: Bindung. Und diese Bindung ist keine Einschränkung, bedeutet nicht Unfreiheit, sondern vielmehr eine Standleitung zur Quelle des Lebens, die, schneidet man die Wurzeln ab, nicht mehr erreichbar ist.
Was Wurzeln außer dem Zugang zu Wasser bereitzuhalten vermögen, können wir von dem „Wood Wide Web“ lernen. Bäume sind über ihr Wurzelnetzwerk miteinander verbunden. Sie teilen darüber Freud, Leid und sogar Nahrung. Von ihnen können wir lernen, die alte Wurzel Jesse mit neuen Augen zu sehen.
Die Autorin ist Theologin und Musikerin und schreibt über Kunst und Kultur.
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