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„Ich möchte kein Baby unter freiem Himmel“

Der außergewöhnlichste Beratungsfall 2017 macht deutlich, was 1000plus ist: ein Netzwerk von immer mehr Menschen, die ihren Beitrag dafür leisten, dass Frauen im Schwangerschaftskonflikt eine echte Alternative für das Leben erhalten – Hilfe statt Abtreibung. Von Martin Voigt
Ein zaghaftes Lächeln Richtung Zukunft
Foto: 1000plus | Ein zaghaftes Lächeln Richtung Zukunft: Wenn alles gut geht, werden Anna und Stefan am 8. Dezember mit einer kleinen Tochter beschenkt.

Ich rufe bei Ihnen an, weil ich in der Tagespost Ihre 1000plus-Beilage gesehen habe. Ich hoffe, dass Sie genau die richtige Anlaufstelle sein könnten!“ Die Anruferin stellt sich als Frau Büchele aus München vor, die abends von ihrer Pfarrei aus Obdachlose mit etwas Kleidung oder einer warmen Mahlzeit versorgt. Seit einigen Wochen betreue sie ein junges Pärchen aus Ungarn, das auf den Stufen vor der Maximilianskirche seinen Platz gefunden habe. Nun sei sie jedoch in großer Angst um die junge Frau, erzählt Frau Büchele. Die 32-jährige Anna und ihr gleichaltriger Freund Stefan werden Eltern! Ein Arzt der Organisation „Ärzte der Welt“ habe die Schwangerschaft bestätigt.

Voller Sorge schildert Frau Büchele, was sie am meisten beunruhigt: „Anna ist in der achten Schwangerschaftswoche und sie will abtreiben. Stefan will sein Kind behalten. Und sie trinken zu viel Alkohol. Das ist doch so gefährlich für das Kind und für die Mutter sowieso. Dringend müssen wir etwas unternehmen! Sie stellen doch keinen Beratungsschein aus?“

Die 1000plus-Beraterin Lea Huber versucht, bei diesem außergewöhnlichen Anruf den Überblick zu behalten. Wie Anna und Stefan auf die neue Situation reagieren würden, fragt sie, und ob sie denn bereit wären, zu einem Beratungsgespräch in die Widenmayerstraße zu kommen? Erleichterte Zustimmung am anderen Ende der Leitung. Das sei sicher der beste Weg und sie werde die beiden so schnell wie möglich fragen, antwortet Frau Büchele. Noch am Abend wolle sie auf den Pro Femina-Anrufbeantworter sprechen, ob das ungarische Paar das Angebot annehmen möchte. Lea reserviert einen Termin für Freitag und erkundigt sich nach den Deutschkenntnissen der beiden Ungarn. Wie befürchtet, sind diese kaum, beziehungsweise gar nicht vorhanden. Stefan spricht lediglich etwas Englisch. So habe er auch deutlich machen können, sein Kind unbedingt bekommen zu wollen, erzählt Frau Büchele. Anna hingegen wolle ihr Kind auf keinen Fall.

 

„Wenn man den Hörer abnimmt, erwartet man eher einen Schwangerschaftskonflikt der normalen Sorte“

 

Kaum aufgelegt, greift Lea erneut zum Telefon, denn sie ist sich ziemlich sicher, in ihrer Kirchengemeinde ein paar Leute ungarisch sprechen gehört zu haben. Und tatsächlich: Krisztina ist zwar Rumänin, aber sie spricht ungarisch. Und sie ist auch sofort bereit, als Dolmetscherin einzuspringen.

Am Freitag – es ist der 28. April – bereiten Lea Huber, Barbara Dohr – die Beratungsleiterin von Pro Femina in München – und Krisztina, die Dolmetscherin, den großen Beratungsraum vor. Denn Stefan und Anna hatten die Einladung dankbar angenommen. Sechs bequeme Sessel und ein niedriger Tisch für eine ungezwungene Atmosphäre, belegte Brötchen und ein großer Obstteller und Tee für ein spätes Frühstück stehen bereit – und zwei Beraterinnen samt Übersetzerin warten, dass es klingelt. Und dann klingelt es überpünktlich fünf Minuten vor elf Uhr.

Zwei müde Gestalten, denen der Geruch der Straße anhaftet, und eine feine, ältere Dame kommen durch die schwere Schwingtüre und werden von Frau Dohr, Lea und Krisztina in Empfang genommen. Die erste Unsicherheit verfliegt, als Frau Büchele angesichts der liebevoll gefüllten Brötchenteller lächeln muss und erklärt, dass sie Stefan und Anna vorher noch zum Frühstück ins Café eingeladen hatte, denn „mit leerem Magen kann man sich doch nicht beraten lassen!“

Dank Krisztinas Hilfe nimmt das Gespräch schnell Fahrt auf. An alle möglichen staatlichen Stellen habe er sich in seinem Bemühen um eine Arbeit und eine Wohnung bereits gewandt, erzählt Stefan und schickt auf Englisch hinterher: „Ich möchte ein normales Leben, eine Arbeit, ein Dach überm Kopf, auf keinen Fall will ich dem Staat auf der Tasche liegen.“ Der Diplomsportlehrer, der „wirklich jeden Job“ annehmen würde – wie er betont –, wirkt sichtlich verzweifelt.

 

„Das war völlig neu für uns. Es lief aber ganz locker, fast wie ein normales Gespräch“

 

Anna bleibt auffallend still. Nur einmal sagt sie leise, dass sie ihr Kind vielleicht bekommen möchte – nur nicht auf der Kirchentreppe. Nun sind die nächsten Schritte klar: Der künftige Familienvater muss schnellstmöglich in Lohn und Brot. Da es noch nicht so weit ist, packt Barbara Dohr die Brötchen ein und gibt sie den beiden werdenden Eltern mit auf den Weg und Lea überreicht der schwangeren Anna zum Abschied einen warmen Mantel.

Später einmal sollte Lea sagen, dass sie noch nie so viel kreuz und quer durch die gesamte Stadt München telefoniert habe. Überall wurde sie abgewiesen und bei vielen Stellen hatte Stefan schon angeklopft: Jobcenter, Caritas, Bahnhofsmission, Bonifatiuswerk – „…eine obdachlose Familie aus Ungarn, oh, das ist schwierig“, hieß es des Öfteren, oder: „EU-Bürger ohne Deutschkenntnisse? Probieren Sie es doch besser einmal bei...“ Immer wieder macht sich der kleine Trupp mit Stefan und Anna auf den Weg, zu den „Ärzten der Welt“, zum Wohnungsamt oder zum katholischen Männerfürsorgeverein für Obdachlose. Dort hätte man eine Bleibe für die junge Familie, bräuchte zuvor aber eine Bestätigung vom Wohnungsamt.

„Elend pur in jedem Gesicht, aber unsere beiden waren am Schlimmsten dran.“ So beschreibt Lea ihren Eindruck im Wartebereich des Wohnungsamts, nachdem sie eine Nummer gezogen und zu viert Platz genommen haben. Eine Stunde warten sie, dann endlich wird ihre Nummer angezeigt. Die Dame hinterm Schalter hört freundlich zu, unterbricht dann aber, denn für solche Anfragen sei die Abteilung im Stockwerk drüber zuständig. Wieder müssen sie eine Nummer ziehen und Platz nehmen. Das Ergebnis nach einer zweiten Wartestunde: Mehr als eine Fahrkarte nach Ungarn auszustellen, könne man nicht für sie tun.

Entmutigt findet man sich auf der Franziskanerstraße wieder. Nach über zwei Stunden Wartebereich blendet das Tageslicht, aber Sara drängt zur Eile. Sie hat noch eine zweite Chance in petto. Das evangelische Hilfswerk für „Migrationsberatung wohnungsloser Familien“ ist gleich um die Ecke. „Diese Selbstbeschreibung passt doch wie die Faust aufs Auge“, findet Lea, aber wieder konnte man Stefan und Anna nicht weiterhelfen. „Wir haben nicht herausgefunden, warum es nicht geklappt hat“, erzählt Sara. „Angeblich hätte man nur helfen können, wenn die beiden bereits Eltern eines Kindes wären.“

 

„Wir müssen das Schicksal selbst in die Hand nehmen und das Helfernetzwerk von 1000plus aktivieren!“

 

Aufgeben wollen Stefan und Anna, die seit Monaten solche Erfahrungen machen, trotzdem nicht. Obdachlosigkeit sei in Deutschland immer noch besser zu ertragen als in Ungarn, finden die beiden, die soeben endgültig durch das deutsche Sozialnetz gerauscht sind. Auch für die Beraterinnen steht nach unzähligen erfolglosen Telefonaten und etlichen Ämterbesuchen eines fest: „Wir müssen das Schicksal von Stefan, Anna und ihrem ungeborenen Kind komplett selbst in die Hand nehmen und unser Helfernetzwerk aktivieren.“

Zu allererst sei es aber Zeit, neben dem Notwendigsten auch einmal etwas fürs Gemüt zu tun, meint Lea mit einem Blick auf die verfilzten Haare von Anna. „Wir schicken die beiden jetzt erstmal zum Friseur!“ Aber schon der erste hat beim Stichwort „obdachlos“ über Wochen keinen Termin mehr frei. Vier Friseure sucht Lea persönlich auf, bis sie zweimal Haareschneiden im Voraus bezahlen kann.

Barbara Dohrs erste Anrufe im Helfernetzwerk zeigen, wie angespannt der Wohnungsmarkt in München ist. Das Leben auf dem Land ist preiswerter und für den Weg aus der Obdachlosigkeit vermutlich besser geeignet, überlegt sie und ruft kurzer Hand bei Karin Stängel aus dem Schwarzwald an. Familie Stängel war schon einmal für 1000plus im Einsatz (siehe Seite 6). Mit jeder Minute, die die beiden nun über mögliche Perspektiven für Stefan und Anna telefonieren, steigt die Stimmung – kein Vergleich zum Wartebereich auf dem Amt. Nach nur drei Tagen meldet sich Karin Stängel zurück: „Barbara, stell Dir vor, ich hätte da nicht nur eine dauerhafte Bleibe für die beiden, sondern auch schon eine Arbeitsstelle für Stefan.

 

„,Werden wir eine gute Zukunft haben?‘, fragt der große kräftige Stefan überwältigt“

 

Nicht alle Verhaltensweisen, Kränkungen und Ängste, die sich bei einem Leben auf der Straße in die Seele brennen, lösen sich augenblicklich in Wohlgefallen auf. Auch der nächste Schritt ist für Stefan und Anna noch einmal ein gewaltiger: Da sitzen sie nun mit zwei Frauen, die sie gerade erst kennengelernt haben, in einem Auto in Richtung eines Ortes, von dem sie kaum eine Vorstellung haben. „Werden wir eine gute Zukunft haben?“, fragt der große kräftige Stefan überwältigt und doch ein wenig bleich um die Nase. Als Gepäck haben sie zwei große Beutel mit neu gekaufter Kleidung. Monika und Adriana Aufiero, Frau und Tochter von Kristijan Aufiero – dem Vorstandsvorsitzenden von Pro Femina – waren gründlich shoppen: Hemden, Socken, Hosen, Umstandsmode und eine kleine Handtasche für Anna – an alles haben sie gedacht für einen gut gekleideten Start in das neue Leben im Schwarzwald.

Als das 1000plus-Auto in die Einfahrt des letzten Hauses einer kleinen Straße irgendwo an einem südlichen Hang rollt, öffnet sich sogleich die Tür. Das Ehepaar Stängel hat liebevoll und reichhaltig aufgetischt. Wenn sonst nach einer kargen Portion Fastfood – wenn überhaupt – die Kirchentreppe als Nachtlager wartete, öffnet sich nun für Stefan und Anna die Tür zu einem Schlafzimmer. Weiße Bettdecken, nach vielen Monaten wieder ein Kissen – das ist am Ende des langen Tages doch etwas viel.

Eigentlich hätte es für Stefan und Anna ein erster Kennenlernbesuch werden sollen, eigentlich. „Sie können die beiden doch wegen der paar Tage nicht wieder mit auf die Kirchentreppe nehmen“, meint Karin Stängel beim Frühstück. In der örtlichen Feriensiedlung sei bereits eine Bleibe organisiert, bis die Einliegerwohnung für Stefan und Anna fertig sei. Selbstverständlich übernahm Pro Femina die Auslagen der Stängels.

Die nächsten Tage nutzt Stefan, um beim Möblieren seines zukünftigen Zuhauses zu helfen, bis seine Arbeit bei einem Zulieferbetrieb für eine Lebensmittelkette beginnt. Anna, die ohne Arbeitsverhältnis keine Pflichtversicherung bei einer Krankenkasse hat, kann von einer mit den Stängels befreundeten Hebamme untersucht werden. Bald wird sie bei Stefan mitversichert sein, denn alles, was zu ihrem Glück jetzt noch fehlt, ist eine ungarische Hochzeit – die in diesen Tagen stattfindet.

„Was für eine Geschichte!“ Kristijan Aufiero schüttelt immer noch etwas ungläubig den Kopf. Eine ältere Dame, die Obdachlose unterstützt und sich im richtigen Augenblick an die Tagespostbeilage erinnert, eine Dolmetscherin, die sich spontan Zeit nimmt, und ein ganzes Team an Beraterinnen, die nichts unversucht lassen, damit das Kind von Anna und Stefan leben darf. Selbst die eigene Familie setzt sich ein und zu guter Letzt zeigt das Helfernetzwerk, wie viele Menschen mit Herz und Verstand hier versammelt sind. „Was für eine Geschichte“, sagt der 1000plus-Chef noch einmal. Diesmal klingt seine Stimme dankbar und stolz.

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