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Mario Vargas Llosa - Gelebte Erfahrung

Mario Vargas Llosa sieht den Liberalismus als Mittel gegen den Mainstream.
Mario Vargas Llosa
Foto: IN | Eine intellektuelle Integrität, wie Jean-François Revel sie hatte, ist für LLosa ein „Auslaufmodell“.

Vom Sozialismus hat er sich längst verabschiedet. Der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa, der sich auch immer wieder in der Politik seines Landes engagierte, hat nun ein Sachbuch über den Liberalismus veröffentlicht, der ihn lange Jahre begleitet und geprägt hat. Mit analytischem Scharfsinn, aber auch mit Freude an Anekdoten, erzählt Llosa über die großen Gestalten des Liberalismus wie Adam Smith, José Ortega y Gasset, Friedrich Hayek, Karl Popper, Raymond Aron, Isaiah Berlin und Jean-François Revel. Sie haben in ihren Gedanken das Individuum über die „Horde“ gestellt und damit über die Nation, die Klasse oder Partei, um die Werte für ein demokratisches Zusammenleben herauszustellen.

Llosa kennt die Lage in Südamerika genau und weiß auch über die abgründigen Details der Suche nach Freiheit zu berichten, die dem Westeuropäer zu akzeptieren eher schwerfallen. Er sieht so ungleiche Phänomene in ihrer Auffassung von Freiheit verbunden wie die literarische Romantik, die Mystik und die Klosterorden, die Sozialdemokratie oder die liberale Philosophie. Isaiah Berlin, der frühere Professor in Oxford für Sozialphilosophie und Politische Theorie, meinte, dass sich sogar manche Diktaturen auf ein gewisses Maß an Freiheit einstellen und sie zum Teil auch leben. „In Lateinamerika kennen wir das, und auch die Spanier haben es in den letzten Jahren unter Franco kennengelernt. Manche rechte Diktaturen, die Wert auf die wirtschaftlichen Freiheiten legen, garantieren ihren Bürgern – bei allen Übergriffen und Verbrechen, die sie begehen, so in Chile unter Pinochet – in der Regel eine größere ,negative Freiheit‘ als die sozialistischen und quasisozialistischen Regime wie in Kuba oder im heutigen Venezuela.“ Anders als in Gesellschaften mit einem positiven Freiheitsbegriff mit einer Vorstellung von Solidarität, Gerechtigkeit und Verantwortung in einer Gemeinschaft mit einem höheren und einzigen Ziel, setzt der negative Freiheitsbegriff nach Llosa eher auf die geschützten Varianten und Sonderfälle in einer Gesellschaft. Das sind eher die demokratischen Strukturen mit einem „Nebeneinander von Standpunkten und Anschauungen“, in denen die Freiheit der Person, der Religion oder Presse gewährt werden. John Stuart Mill oder Benjamin Constant sind große Vertreter dieser Position.

Solche liberalen Positionen sind aber nach einem strikten Markttheoretiker wie Friedrich Hayek nicht ohne das Christentum möglich geworden. Zudem hätten die Religionen geholfen, die „spontanen Ordnungen“ wie Sprache, Geld, Privateigentum oder Handel, die die Zivilisationen entstehen ließen, besser zu verstehen. Aber um das zu würdigen musste Llosa zunächst einen steinigen Weg zurücklegen, den er einleitend beschreibt. „Meine Entscheidung für den Liberalismus war ein jahrelanger, vor allem intellektueller Prozess. Geholfen hat mir dabei, dass ich seit Ende der sechziger Jahre in London wohnte, wo ich an der Universität lehrte und auch die elf Regierungsjahre von Margaret Thatcher unmittelbar miterlebte.“ Zu dieser Zeit lernte Llosa den Liberalismus schätzen: „Der Liberalismus ist eine Position, die keine Antworten auf alles hat, wie es der Marxismus für sich in Anspruch nimmt, er lässt Abweichungen und Kritik zu. Grundlage ist ein kleines, aber unverkennbares Bündel an Überzeugungen. Etwa dass die Freiheit der höchste Wert ist und dass sie weder teilbar noch in Teilen zu haben ist; dass sie eine einzige ist und in einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft in allen Bereichen zum Ausdruck kommt, dem wirtschaftlichen, politischen, sozialen, kulturellen.“

Wieviel „intellektuelle Integrität“ gibt es noch?

Das Buch beginnt mit einem der Begründer des Liberalismus, der in dem schottischen Küstenstädtchen Kirkcaldy nördlich von Edinburgh geborene Adam Smith (1723–1790). Sein erstes Werk war die „Theorie der ethischen Gefühle“ (1759). In dieser ersten Annäherung an die „Wissenschaft vom Menschen“ fragt er unter anderem, was eine Gesellschaft zusammenhält und was sie auseinandertreibt. Smith sah ein natürliches Mitgefühl, das die Menschen einander annäherte, was nicht passieren würde, wären die Handlungen allein vernunftgeleitet. Eine Grundsolidarität in der Mitte der Gesellschaft verhindere normalerweise deren Auseinanderfallen. Sein Buch„Der Wohlstand der Nationen“ löste in der Politik und Wirtschaft eine Revolution aus und Voltaire sagte dazu: „Wir haben nichts Vergleichbares, und ich schäme mich für meine lieben Landsleute.“

In „Der Wohlstand der Nationen“ vertritt Smith die überraschende Einsicht, dass nicht Nächstenliebe oder Selbstlosigkeit den Wohlstand und Fortschritt bringen, sondern Egoismus: „Nicht vom Wohlwollend des Metzgers, Brauer und Bäcker erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen.“ Einer der großen Anhänger von Smith, John Maynard Keynes, spottete darüber. Und doch musste er schließlich nachgeben in einer langen Reihe der Schüler Smith', zu der auch Marx gehörte. Noch einmal Keynes über den einzelnen Wirtschaftenden: „Wenn er es vorzieht, die eigene nationale Wirtschaft anstatt die ausländische zu unterstützen, denkt er eigentlich nur an die eigene Sicherheit und wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, dass ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat.“ Smith sah in den Konsumenten die großen Nutznießer und forderte fairen Wettbewerb ohne Bevorzugungen.

Bleibt noch, auf Jean-François Revel (1924–2006) hinzuweisen, dem französischen Journalisten und Essayisten, dessen Eintreten für die Freiheit an Camus oder Orwell erinnert. Mit seiner Schrift „Die Herrschaft der Lüge“ (1988) brachte er das Gefühl zum Ausdruck, von den postmodernen Zeitgenossen betrogen zu werden. Mit Mut schwamm er gegen den Strom und sah im 20. Jahrhundert das Unglück, in dem das Ideal der Freiheit in den Dienst der Tyrannei gestellt wurde, Gleichheit in den Dienst der Privilegien und die Vokabel „links“ in den „Dienst der Verarmung und Unterjochung“. So zeigt Llosa mit seiner Darstellung liberaler Denker mit „beinahe schon krankhafter intellektueller Integrität“ (zu Revel) eine Reihe von freien Geistern, deren Tradition er eher schon als Auslaufmodell ansieht. Doch ob das so ist, hängt auch davon ab, ob der Einzelne in der zukünftigen Gesellschaft etwas von Format will.

Mario Vargas Llosa: Der Ruf der Horde. Eine intellektuelle Biografie. Suhrkamp Verlag 2019, 315 Seiten, EUR 24,–

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