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„Berufung ist eine Herz zu Herz Begegnung“ 

Die Krise ist eine Gotteskrise. Die Leiterin des Instituts für Neuevangelisierung im Bistum Augsburg, Schwester Theresia, ist davon überzeugt, dass Berufung ohne Evangelisation nicht möglich ist. Im Interview erläutert die Ordensfrau, warum die Menschen erst wieder mit Jesus bekannt werden müssen.
Szene aus dem Film „Lizenz zum Heiraten“.
Foto: imago stock&people | Berufungen entstehen dort, wo missionarische Projekte erfolgreich umgesetzt werden. Wer weiß, ob der Junge sich nicht Dank seines Priester-Freundes für eine geistliche Berufung entscheidet. Das Bild zeigt eine Szene ...

Sr. Theresia, in der Kirche in Deutschland ist allseits von Krise die Rede: von Glaubenskrise, Berufungskrise, Ehekrise, Missbrauchskrise und so weiter. In der Tat: Es sieht nicht gut aus. In dieser Situation setzen Sie sich als Ordensfrau und Leiterin des Instituts für Neuevangelisierung für Berufung und Neuevangelisierung in der Kirche ein. Macht das Sinn? Wie sehen Sie die Situation? 

Sie sprechen einen sehr komplexen Zusammenhang an. Ja, es gibt viele Krisen in der Kirche, man könnte die Aufzählung noch erweitern. Aber all diese Krisen sind im Grunde nur Ausfaltungen der einen grundlegenden Krise, der Gotteskrise. Gerade in den ursprünglich christlichen Ländern Europas scheint die Lebendigkeit des Glaubens sowie die Innigkeit und existenzielle Kraft der Gottesbeziehung oftmals erstarrt zu sein. Wir haben hier nicht so sehr das Problem eines kämpferischen Atheismus – wenn es das vereinzelt natürlich auch gibt – wir haben das weit größere Problem, dass die Mehrheit der Christen, obwohl sie getauft sind, so dahinleben, als ob es Gott nicht gäbe.

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Hinzu kommt, dass in manchen katholischen Gegenden Deutschlands Glaube und kirchliches Leben so sehr zur Tradition geworden sind, dass man sich darin zwar beheimatet weiß und möglicherweise auch über Strecken des Lebens hinweg Halt und Orientierung findet, dass aber eine persönliche, das ganze Leben tragende Beziehung zu Jesus fehlt. Damit soll Tradition nicht schlechtgeredet werden, aber sie birgt die Gefahr der Aushöhlung und Veräußerlichung in sich. Man lebt dann zwar noch aus ihr, die einen entlastenden Rahmen bildet und ein Stück weit auch trägt; aber sobald an jenem Rahmen gerüttelt wird, sei es durch einen persönlichen Schicksalsschlag, sei es durch Ereignisse gesellschaftlicher oder kirchlicher Art, zeigt es sich, ob wir darüber hinaus auch auf dem Fundament einer lebendigen Jesusbeziehung stehen. Nur letzteres trägt dann wirklich durch die Krise. Wir erleben das gegenwärtig in der Kirche auf erschütternde Weise. Corona hat sicher viele nachdenklich gemacht und da oder dort auch zu einer Glaubensvertiefung beigetragen.

Aber hat die Flut von Gottesdienstkonzepten für zuhause, die Livestreams von Messfeiern und andere Online-Angebote wirklich zu einer Vertiefung des Glaubens beigetragen? Man kann hier noch kein abschließendes Urteil fällen, aber zumindest müssen wir uns eingestehen, dass sich nach dem ersten Lockdown im Frühjahr die Kirchen nicht mehr in der alten Weise gefüllt haben. Und wie wird es nach dem zweiten Lockdown aussehen? Wie weit wird die Tradition die Menschen tragen? 

An diesem Punkt kommt die Notwendigkeit der Neuevangelisierung und der Berufungspastoral in den Blick. Die Neuevangelisierung will Menschen, die die traditionellen Glaubensvollzüge der Kirche innerlich nicht mehr mitvollziehen können, weil sie sie als veraltete Traditionen oder lästige Pflichterfüllung erleben, auf neuen Wegen zu einer tiefen, persönlichen Begegnung mit Jesus Christus führen, sodass der Funke der Liebe überspringt und sie sich in die Nachfolge rufen lassen. 

Ja, das scheint auch tatsächlich zu gelingen, denn trotz der grundlegenden Krise in der Kirche gibt es auch immer wieder Neuaufbrüche und Berufungen. Das macht Hoffnung, oder?

Ja, es gibt in der Tat hoffnungsvolle Neuaufbrüche und Berufungen in der Kirche, die echt und bewegend sind, wie zum Beispiel Nightfever, ein Aufbruch junger Menschen, die beim Weltjugendtag 2005 von Jesus in der Anbetung tief angerührt worden sind und nun in ganz Deutschland sich auf den Weg zu den Menschen auf den Straßen machen, um sie einzuladen, vor Jesus in der heiligen Eucharistie hinzutreten und sich ebenfalls von ihm berühren zu lassen. Unzählige Bekehrungen sind hier schon geschehen. Oder ich denke an die Prayerfestivals der Jugend 2000. Auch hier sind es Jugendliche, die andere Jugendliche vor das Angesicht Jesu in der Anbetung führen, damit er sie berühren kann.

Darüber hinaus versuchen sie ihnen durch Katechesen, Workshops und persönliche Gespräche einen Zugang zu den Sakramenten zu vermitteln, welche ihnen dann nicht selten nach langer Suche endlich eine tiefgehende Versöhnung, Heilung und Verbindung mit Jesus schenken, ihrem Leben eine grundlegende Wende und ihm einen neuen Sinn geben. Oder um noch ein Beispiel zu nennen: die Missionarischen Wochen, die wir im Bistum Augsburg mit dem Institut für Neuevangelisierung und dem Bischöflichen Jugendamt in den Pfarreien durchführen. 

Zehn Tage lang leben circa 40 junge Menschen, meist Studenten, in einer Pfarrei, gehen täglich von Haus zu Haus, um mit den Menschen über ihren Glauben zu sprechen, ihre Fragen und manchmal auch Nöte anzuhören und mit ihnen in ihren Anliegen zu beten. Außerdem laden sie zu Abendveranstaltungen, Glaubensgesprächen, und Messfeiern und nicht zuletzt zu einem Abend der Versöhnung mit eucharistischer Anbetung und Beichtangebot ein. Diese Jugendlichen, die keine Superfrommen sind, aber der Kirche ein junges, strahlendes Gesicht geben, reißen oft Barrieren von Vorbehalten gegenüber der Kirche nieder und schaffen für viele unsichere und skeptische Gemeindemitglieder eine Brücke, über die sie nach Jahrzehnten wieder mit der Kirche in Berührung kommen. Auch hier erleben wir einen unglaublichen Aufbruch in den Pfarreien. 

"Jesus interessieren weniger meine Fähigkeiten,
sondern er interessiert sich für mich."

Das ist wahr. Aber wie erklären Sie es sich dann, dass gleichzeitig die Priesterseminare und Noviziate der traditionellen Orden so gut wie leer sind? Ist es der Effekt des Neuen, der in die andere Richtung zieht? Da stellt sich mir die Frage: Was ist essenziell für eine Berufung? 

Wenn ich es auf den Punkt bringen darf: Essenziell, also wesentlich für eine Berufung ist, dass Jesus mich persönlich in seine Nachfolge ruft. Berufung ist eine Angelegenheit der Liebe, wie es in Mk 10,21 heißt: Jesus schaute den reichen jungen Mann, der zu ihm gekommen war, an und gewann ihn lieb. Erst dann sagte er zu ihm: Geh, verkaufe alles, was du hast, dann komm und folge mir nach! Wenn Jesus beruft, dann geschieht das aus Liebe und dann ruft er in die Liebe. Die Liebe aber verlangt Totalität, Ganzheit, da gibt es kein „ja, aber auch noch…“. Diese Liebe ist das Fundament einer jeden Berufung. Da geht es in der Tat um ein Alles oder Nichts.

Jesus interessieren weniger meine Fähigkeiten, sondern er interessiert sich für mich. Meine Person ist ihm wichtig. Liebende heiraten sich nicht, weil der Ehepartner so großartig ist, so intelligent, so einflussreich oder ähnliches, sondern schlichtweg weil ihre Herzen zueinander gefunden haben, Vertrauen und Hingabe gewachsen sind und die Sehnsucht, zwischen ihnen schwingt, für immer beieinander zu bleiben. Ich denke, dass das auch der Kern und das Wesen einer jeden Berufung zum gottgeweihten Leben in der Kirche ist, egal in welcher Ausprägung sie dann gelebt wird. 

Aber wie und wo wird heute in der Kirche Berufung in dieser tief-wesentlichen Art vernommen? 

Ich würde sagen: Nur in der ganz persönlichen Begegnung mit Jesus, einer Begegnung von Herz zu Herz, wo der Funke überspringt und die totale, bedingungslose Hingabe zum einzigen Gegenstand meiner Sehnsucht wird. Das Gebet ist somit der entscheidende Ort der Wahrnehmung einer geistlichen Berufung, was natürlich nicht ausschließt, dass auch andere Faktoren begleitend hinzukommen, wie das Gespräch mit erfahrenen Menschen, richtungsweisende Ereignisse in meinem Leben oder auch eine innere Neigung und persönliche Begabungen. Für mich war der zündende Kern meiner Berufung zum Ordensleben eine ergreifende Begegnung mit Jesus in der Eucharistie, die ich bis heute nicht vergessen kann. 

Jugendliche entzünden Kerzen und beten
Foto: Harald Oppitz (KNA) | Kirchliche Neuaufbrüche sind das Fundament dafür, dass Berufungen entstehen können.

Ich bin sicher, dass die Priesterseminare und Noviziate sich dann wieder füllen werden, wenn ihre Mitglieder einerseits selbst aus der täglichen Begegnung mit Jesus in der Eucharistie – der hl. Messe wie der eucharistischen Anbetung – leben und andererseits junge Menschen in diesen Raum ihrer eigenen Begegnung mit dem Herrn mit hineinnehmen. Mutter Teresa sagte einmal sinngemäß, dass von dem Tag an, als in ihrer Gemeinschaft die tägliche eucharistische Anbetungsstunde eingeführt wurde, sich das Noviziat mit jungen Menschen zu füllen begann. 

Jesus brach in seiner Berufungspraxis die Konventionen seiner Zeit. Was ist an seiner Berufungspraxis anders? Gilt das auch noch für uns heute? 

Es gab einen entscheidenden Punkt, an dem sich die Jünger Jesu von den Jüngern der Rabbinen seiner Zeit unterschieden. Jesus sagte zu denen, die er berief: „Kommt, folgt mir nach“, das heißt, lasst alles zurück, was euer bisheriges Leben ausmachte: Familie, Frau und Kinder, Beruf und Besitz, und setzt künftig alles ausschließlich und für immer auf meine Person. Die Jünger der Rabbinen folgten ihren Meistern nur so lange, wie sie von ihnen lernen konnten, und in diesen Lehrjahren bildeten sie auch eine Lebensgemeinschaft mit ihnen. Doch wenn sie ausgelernt hatten, verließen sie ihre Meister, wurden selbst Rabbi und sammelten nun ihrerseits Schüler um sich.

Die Jünger Jesu hingegen wurden dazu berufen, lebenslang Jünger, also Schüler ihres Meisters, zu bleiben, immer neu von ihm zu lernen und darüber hinaus auch eine Lebens- und Schicksalsgemeinschaft mit ihm zu bilden, die kein Ende nehmen sollte. Und sie würden auch niemals selbst Rabbi werden, wie Jesus ihnen sagte: „Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen, denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder“ (Mt 23,8). Dieses Muster der Berufung gilt auch für uns heute: Kein Priester, kein Bischof und auch kein Papst beruft einen Menschen in den geistlichen Stand. Es ist allein Jesus, der beruft. Wir Menschen spielen lediglich die Rolle von Hilfsassistenten, die einem Suchenden aus der eigenen Erfahrung heraus vielleicht einige Hinweise geben können, wie man die Stimme Jesu erkennt und sie von anderen Stimmen unterscheidet. 

In den Foren des Synodalen Weges wird immer wieder von einer „Erneuerung“ der priesterlichen Lebensform gesprochen. Man sieht diese Erneuerung meist in der Abschaffung des Zölibats. Was halten Sie davon? 

Der Zölibat ist ein hohes und dem Priesteramt angemessenes Gut, das die katholische Kirche bis heute bewahrt hat. Dafür sind wir dankbar. Eine Erneuerung der priesterlichen Lebensform sehe ich nicht in einer Aufhebung, sondern in der sorgfältigen Pflege einer persönlichen, lebendigen Beziehung zu Jesus Christus, konkret in einer stärkeren Hinwendung zum persönlichen Gebet. Zwar feiert der Priester normalerweise täglich die hl. Messe, die ja für ihn wie für einen jeden Christen die innigste Vereinigung mit dem Herrn darstellt. Er verrichtet auch regelmäßig das Stundengebet und betrachtet das Wortes Gottes.

 

Doch kann all dies auch zur Gewohnheit und damit zum seelenlosen Ritus werden, wenn es nicht ergänzt wird durch eine regelmäßig gepflegte persönliche Beziehung zu Jesus. Wenn Eheleute sich Tag für Tag nur Gedichte vorlesen, und seien es auch die schönsten Liebesgedichte, aber sonst keine Zeit des liebevollen Zusammenseins und des persönlichen Austauschs miteinander verbringen, wird die Liebe bald sterben. Die ideale Weise, eine Zeit des liebevollen Zusammenseins und des persönlichen Austauschs mit Jesus zu verbringen, ist für mich die eucharistische Anbetung. In diesem stillen Verweilen vor dem Herrn darf alles vorkommen, Freudiges, Schweres, Leidvolles, Fragen, Konflikte und sicher auch das Zugeben von Versagen, die Bitte um Vergebung und die vom Herrn geschenkte Versöhnung.

Das ist es, was die Liebesbeziehung zu Jesus, in die der Priester bei seiner Weihe eingetreten ist, aufrecht erhält. Ich bin überzeugt, dass die regelmäßige, wenn möglich tägliche eucharistische Anbetung für den Priester eine revolutionäre Erneuerung seiner zölibatären Lebensform bedeuten würde und dass dann der Zölibat gar keine Frage mehr, sondern ein Bedürfnis der Liebe wäre. Ein neunzigjähriger Priester sagte mir einmal: Wenn ich nicht in jüngeren Jahren die eucharistische Anbetung entdeckt hätte, weiß ich nicht, wo ich gelandet wäre, ob ich überhaupt noch Priester wäre. Täglich in Stille und Liebe vor dem Herrn zu verweilen, das hat mir eine tiefe Erfahrung seiner Gegenwart und seiner Treue geschenkt, und die hat mich durch alle Krisen getragen. Wie wäre es, wenn wir, statt über eine „Erneuerung“ der priesterlichen Lebensform im Sinne von Abschaffung oder Freistellung des Zölibats über eine „Erneuerung“ und Vertiefung der priesterlichen Jesusbeziehung durch die eucharistische Anbetung nachdenken und diese schon in den Priesterseminaren einüben würden? 

Das ist ja nun eine ganz andere Perspektive der Erneuerung der priesterlichen Lebensform. Warum spricht man davon nicht in den Foren des Synodalen Weges? Könnte es sein, dass der Synodale Weg eher eine funktionalistische Auffassung von Diensten und Ämtern in der Kirche vertritt? Ist das denn nicht auch berechtigt? 

Natürlich sind Dienste und Ämter in der Kirche auch mit Funktionen verbunden. Der Berufene ist immer auch ein Gesandter. Das war schon im Alten Testament so: Abraham, Mose, die Richter, die Könige und die Propheten wurden von Gott zunächst in ein ganz persönliches, liebevolles Verhältnis zu ihm gerufen, aber dann auch mit einem konkreten Auftrag gesandt: im Namen Gottes das Volk Israel zu leiten, zu lehren, zu ermahnen oder zu trösten.

Auch im Neuen Testament beruft Jesus seine Apostel und Jünger in eine ganz persönliche Nachfolge, aber er sendet sie zugleich auch hinaus in alle Welt, um alle Menschen zu seinen Jüngern zu machen und sie zu taufen, so in Mt 28,19, oder um seine Zeugen zu sein bis an die Grenzen der Erde, so in Apg 1,8. Allerdings, wenn die beiden Elemente Berufung und Sendung beziehungsweise Berufung und Funktion voneinander gelöst werden, wenn die Berufung und damit die persönliche Jesusbeziehung mehr und mehr in den Hintergrund tritt und nur noch die Funktion im Blick bleibt, womöglich noch verbunden mit Machtausübung, Einfluss und Ansehen, dann geraten die Dienste und Ämter der Kirche in eine gefährliche Schieflage. 

Sie sind Ordensfrau. Auch das Ordensleben leidet unter dieser Funktionalisierung von Ämtern und Diensten in der Kirche. Was muss sich in den Orden ändern, um für junge Christen ein Ort zu werden, an dem sie ihre geistliche Berufung leben können? 

Wie schon gesagt, Berufung und Sendung, persönliche Beziehung zu Jesus und daraus resultierender Auftrag, gehören eng zusammen. Es besteht nun aber im Leben eines Ordenschristen wie auch in der Entwicklung einer Ordensgemeinschaft als Ganzer immer die Gefahr, dass im Laufe der Zeit Berufung und Sendung oder Auftrag unmerklich auseinandertriften und am Schluss nur noch der bloße Aktivismus übrig bleibt. Der ist dann nicht mehr Sendung, sondern Selbstverwirklichung, die unfruchtbar bleibt und keinen Segen für andere bringt. 

Schwestern des Ordens der Mutter Teresa von Kalkutta
Foto: imago stock&people via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Wenn die persönliche Hingabe zu Christus im Zentrum steht, werden sich junge Leute für ein Klosterleben interessieren.

Wo junge Menschen in einem Orden eine solche Verschiebung des Schwergewichtes spüren, werden sie nicht eintreten oder bald wieder gehen. Hier bleibt, wenn die Ordensgemeinschaft überleben will, nur eine Chance: Umkehr und Rückkehr zur ersten Liebe (vgl. Offb 2,4–5). Das ist kein leichter Weg, aber er ist durchaus möglich. Reformbewegungen gab es ja immer wieder in der Geschichte der Orden. Die „funktionieren“ allerdings nicht aus eigener Kraft, denn der Ertrinkende kann sich nicht selbst aus dem Wasser ziehen. Es ist Christus, der immer wieder Einzelne beruft, sich ihm als Werkzeuge der Erneuerung zur Verfügung zu stellen, wie zum Beispiel Bernhard von Clairvaux oder Teresa von Avila u.a. Und wenn wir genau hinschauen, so besteht deren Erneuerung immer in der Rückkehr zur ersten Liebe, zu einer tiefen, inneren, liebevollen Jesusbeziehung. 

"Ja, Neuevangelisierung und
Berufungspastoral haben viel
miteinander zu tun."

Sr. Theresia, Sie sind Leiterin des Instituts für Neuevangelisierung im Bistum Augsburg – soweit ich sehe eine einmalige Einrichtung innerhalb der Diözesen Deutschlands –, und zugleich sind sie Ordensfrau. Lässt sich das miteinander vereinbaren? 

Oh ja, Ordensleben und Neuevangelisierung lassen sich sehr gut vereinbaren; sie gehören sogar wesentlich zusammen. Jede Ordensgemeinschaft muss einen missionarischen Geist in sich tragen, denn, wie schon gesagt, es gibt keine Berufung ohne Sendung. Sicherlich wird je nach Ordenscharisma die Neuevangelisierung dann noch ihre je spezifische Ausprägung erfahren. Der Dominikanerorden, dem ich angehöre, ist ein aktiv apostolischer Orden, obgleich sein Motto „contemplari et contemplata aliis tradere“ – „Betrachten und das in der Betrachtung Empfangene anderen weitergeben“ (Thomas von Aquin) deutlich macht, dass er auf das Gebet als das Fundament für die Fruchtbarkeit seines aktiven Wirkens setzt. 

Der hl. Dominikus hatte seinen Orden in einer Zeit gegründet, die der unsrigen heute sehr ähnelt: In Scharen waren die Menschen im 12./13. Jh. der Kirche davongelaufen und den vermeintlichen Heilslehren der Katharer und Waldenser gefolgt, während die Vertreter der Kirche wie gelähmt vor dieser Fluchtbewegung standen. Den hl. Dominikus wühlten die Ohnmacht der Kirche und die Gefahr, die daraus für das Seelenheil der Menschen entstand, zutiefst auf. Es wird berichtet, dass er nächtelang in der Kirche betete, weinte und zu Gott schrie: „O Herr, was wird aus den Seelen?“

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Diese innere Not um das Heil der Seelen ließ in ihm den Entschluss reifen, einen Orden von Predigerbrüdern zu gründen, um mit ihm um das Heil der Seelen zu kämpfen, die Menschen aus den Fängen der Irrlehre zu befreien und sie wieder in die Kirche zurückzuführen. Ohne dass der hl. Dominikus den Begriff „Neuevangelisierung“ kannte, hat er damals schon nichts anderes getan: Er ging den Menschen nach, die schon Christen waren, aber auf Distanz zur Kirche gegangen sind, um sie wieder neu mit dem Evangelium vertraut zu machen und in die Kirche zurückzuführen. 

Neuevangelisierung, so kann man sagen, ist der eigentliche Gründungszweck und das Charisma des Dominikanerordens. Deshalb lässt sich meine Arbeit im Institut für Neuevangelisierung so gut mit meinem Ordensleben vereinbaren. 

Wenn ich jetzt noch eine letzte Frage stellen darf: Haben denn Berufungspastoral und Neuevangelisierung etwas miteinander zu tun? 

Nach dem bisher Gesagten ist die Antwort dazu klar: Ja, Neuevangelisierung und Berufungspastoral haben viel miteinander zu tun. Neuevangelisierung ist ja in ihrem Kern nichts anderes als Berufungspastoral. Denn Menschen auf neuen Wegen Zugang zu Jesus zu verschaffen, sie in eine lebendige Begegnung mit ihm zu führen, ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass sie den Ruf in die Nachfolge überhaupt hören und ihm antworten können.

Nur wenn ich den kennenlerne, dessen Herz für mich schlägt und der mich in die besondere Hingabe ruft, nur dann kann auch mein Herz für ihn zu schlagen beginnen. So wird Neuevangelisierung immer auch Menschen dahin führen, ihre geistliche Berufung zu entdecken. Aber sie ist nicht identisch mit Berufungspastoral; sie ist weiter, grundsätzlicher, sozusagen das Mistbeet für die Berufungspastoral. Sie stellt den Rahmen bereit, in dem Berufungspastoral ansetzen kann, und schafft Voraussetzungen, auf denen sie aufbauen und fruchtbar werden kann. Neuevangelisierung und Berufungspastoral sind sozusagen siamesische Zwillinge, die man nicht trennen kann. 


Sr. Dr. Theresia Mende OP
Foto: privat | Sr. Dr. Theresia Mende OP ist die Leiterin des Instituts für Neuevangelisierung im Bistum Augsburg.

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