Schon die Frage, ob sich Israels aktuelles militärisches Vorgehen im Gazastreifen moralisch rechtfertigen lässt, indiziert, dass der Fragesteller sich ihrer Triftigkeit nicht sicher ist. Denn das „Vorgehen im Gazastreifen“ ist nicht mehr abstrakt, sondern betrifft das, was alle Welt (außer Israel) bereits weiß, namentlich, dass Israel im Bestreben, den „totalen Sieg“ (so das Schlagwort des israelischen Premierministers) in einem von vielen schon lange für zwecklos erachteten Krieg zu erlangen, das Leben einer horrenden Unzahl von Kindern, Frauen, alten Menschen und vielen anderen Unbeteiligten ausgelöscht hat. Wenn in der israelischen Öffentlichkeit Aufrufe zur zweiten Nakba, zur Verwüstung aller Lebensgrundlagen des Gazastreifens, zur dezidierten Aushungerung der gemarterten Zivilbevölkerung und zur ethnischen Säuberung des Landstrichs durch Bevölkerungstransfer erklingen – was hat das mit Moral zu tun? Es handelt sich um eine kaum noch überschaubare Akkumulation von Kriegsverbrechen, die bereits den Internationalen Gerichtshof in Den Haag auf den Plan gerufen hat. Ob es sich dabei um einen Genozid handelt oder nicht, ist ein überflüssiger Nomenklaturstreit; das bereits Verbrochene ist monströs genug, ungeachtet der Frage, wie es formaliter eingestuft wird.
Das offizielle Israel begründet das militärische Vorgehen mit dem Recht auf Selbstverteidigung nach dem grauenvollen, von der Hamas am 7. Oktober 2023 auf israelischem Boden vollführten Massaker. Israel musste ganz ohne Zweifel handeln, aber die dann ausgebrochene israelische Militärgewalt erwies sich sehr bald als ein von Rachedurst und Vergeltungsbedürfnis gespeister Vernichtungskrieg, der zudem von fremdbestimmten Zwecken und Interessen durchwirkt war (und noch immer ist). Netanjahu will den Krieg nicht beenden, weil dies den Zerfall seiner Regierungskoalition, die Ausrufung von Neuwahlen mit seinem zu erwartenden Machtverlust sowie die Ernennung einer staatlichen Untersuchungskommission, die seine Schuld am Oktober-Desaster nachwiese, bedeuten würde. Zu diesem Zweck war er sogar bereit, die in Hamas-Gefangenschaft verendenden israelischen Geiseln zu verraten, um ja keinen Deal mit der Hamas einzugehen, der die Beendigung des Krieges zur Voraussetzung hätte. Netanjahu ist bekannt dafür, seine privaten Interessen stets über die des von ihm regierten Staates zu stellen. So viel zu „moralischen“ Erwägungen.
Ein ideologisch gesteuerter Wahrnehmungsessentialismus
Aber man begeht ohnehin einen Wahrnehmungsfehler, wenn man die moralische Frage des hier Erörterten aufs Aktuelle (im Gazastreifen) beschränkt, so höllisch es an sich schon ist. Die Terrortat der Hamas am 7. Oktober ist unabweisbar im Kontext der jahrzehntelangen Unterdrückung der Palästinenser durch die Israelis zu sehen. Jene von der israelischen Propaganda immer wieder beschworene „angeborene Mordlust der Palästinenser“ bzw. die „der arabischen Kultur immanente Gewalttätigkeit“ bezeugt lediglich einen von Israel ideologisch gesteuerten Wahrnehmungsessentialismus des „arabischen“, vor allem des „palästinensischen Feindes“. Die israelische Politik wie auch viele in der israelischen Bevölkerung brauchen dies, gerade weil die barbarische Realität die israelische Politik, das israelische Selbstverständnis, ja die israelische „Normalität“ so dominant prägt: Man ist bei einem 58 Jahre betriebenen inhumanen Okkupationsregime „die einzige Demokratie im Nahen Osten“, und man unterhält auch die „moralischste Armee der Welt“.
Dass man sich in Israel einem von Netanjahu und seiner rechtsradikalen Regierungskoalition initiierten antidemokratischen Staatsstreich ausgesetzt sah und dass Israel momentan einen barbarischen Rachefeldzug vollzieht, der Zigtausenden Zivilisten in Gaza das Leben gekostet und eine unglaubliche Verwüstung angerichtet hat, wird in Israels Öffentlichkeit mit Berufung auf die Untaten des 7. Oktober hingenommen bzw. ignoriert, als handle es sich um eine Petitesse – die Palästinenser hätten sich ihr Unglück selbst zuzuschreiben. Das ist Israels „moralische“ Rechtfertigung – so verkommt Moral zur barbarischen Ideologie.
Moshe Zuckermann ist Soziologe und emeritierter Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv.
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