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Unwürdiges Schweigen

Deutschlands Höchstrichter machen in der Coronafrage weiterhin eine miserable Figur.
Corona-Maßnahmen: Erst im November 2020 hatte der Gesetzgeber das Infektionsschutzgesetz (IfSG) um den neuen § 28a ergänzt.
Foto: Sebastian Kahnert (dpa-Zentralbild) | Erst im November 2020 hatte der Gesetzgeber das Infektionsschutzgesetz (IfSG) um den neuen § 28a ergänzt. Bis dahin umfasste der § 28 IfSG nur Schutzmaßnahmen, die auch schon vor der Pandemie möglich waren.

Das Bundesverfassungsgericht will sich bis auf Weiteres nicht zu der Frage äußern, ob die von Bund und Ländern beschlossenen Coronamaßnahmen zu Beginn der Pandemie eine ausreichende gesetzliche Grundlage hatten. Der Thüringische Landesverfassungsgerichtshof hatte dazu eine Entscheidung der Karlsruher Richter erbeten. Die hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts für unzulässig erklärt, wie das Gericht gestern mitteilte (Az: 1BvN 1/21).

Der Hintergrund: Erst im November 2020 hatte der Gesetzgeber das Infektionsschutzgesetz (IfSG) um den neuen § 28a ergänzt. Bis dahin umfasste der § 28 IfSG nur Schutzmaßnahmen, die auch schon vor der Pandemie möglich waren. Eine Frage, die damals vehement diskutiert wurde, war die, ob Bund und Länder berechtigt waren, auf dieser Grundlage derart tief in die Grundrechte der Bürger eingreifende Maßnahmen wie Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen anzuordnen.

Juristische Nachspiele

In vielen Bundesländern hat diese Frage ein juristisches Nachspiel. In Thüringen etwa klagt derzeit die AfD-Landtagsfraktion gegen die vom Land Thüringen erlassene Coronaverordnung vom 31. Oktober 2020, die sie für verfassungswidrig erachtet. Die Richter in Weimar halten die Verordnung dagegen von § 28 IfSG gerade noch gedeckt.

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Dagegen hatte der Landesverfassungsgerichtshof in Sachsen-Anhalt mehrere Regeln der achten Corona-Landesverordnung wie die Beschränkung privater Feiern, das Beherbergungsverbot, das Busreiseverbot und die flächendeckende Schließung von Gaststätten für verfassungswidrig erklärt. Nach Ansicht der Richter in Dessau ist die Landesregierung zu derart weitreichenden Eingriffen in die Grundrechte von Bürgern auf Grundlage des damaligen IfSG nicht befugt gewesen.

Artikel 100 Grundgesetz

Dass sich die Thüringer Verfassungsrichter an die Kollegen in Karlsruhe wandten, hat einen einfachen Grund. Artikel 100 Grundgesetz schreibt vor: „Will das Verfassungsgericht eines Landes bei der Auslegung des Grundgesetzes von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes oder des Verfassungsgerichts eines anderen Landes abweichen, so hat das Verfassungsgericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.“

Die Weigerung des Ersten Senats der Karlsruher Richter, dem Ersuchen der Weimarer Kollegen stattzugeben und dieses für unzulässig zu erklären, mag formal nicht zu beanstanden sein. Unter dem Strich verströmt die Entscheidung der Höchstrichter jedoch das Fluidum des Winkel-Advokatentums und ist politisch mindestens instinktlos.

Etwaige Schadensersatzklagen dürfen das Gericht nicht schrecken

Wer, wenn nicht das Bundesverfassungsgericht, wäre gefordert, die Frage zu beantworten, ob die Existenzen vernichtenden und die Nerven der Bürger aufreibenden Grundrechtseingriffe während der Pandemie von der Gesetzeslage gedeckt waren oder nicht? Etwaige Schadensersatzklagen, die dann womöglich drohten, dürfen das Gericht nicht schrecken. Das Bundesverfassungsgericht hat über die Einhaltung der Verfassung zu wachen. Und über sonst nichts. Konsequentialistische Erwägungen kann es sich, will es seinem Auftrag gerecht werden, nicht leisten. Das unwürdige Schweigen der Höchstrichter lässt vermuten, dass es dazu nicht mehr in der Lage ist.

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Stefan Rehder Verfassungswidrigkeit

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