In Deutschland wird wieder über Abtreibung gestritten. Und das ist gut so. Denn ganz gleich, ob man mit der Embryologie und dem Bundesverfassungsgericht gemäß dem Stand der Wissenschaft der Ansicht ist, der Mensch entwickele sich als Mensch und nicht zum Menschen, wie das noch Ernst Haeckel (1834–1919) annahm. Oder ob man meint, der Embryo sei bloßes „Schwangerschaftsgewebe“ (Kristina Hänel), das sich auf dem Weg durch den Geburtskanal – Abrakadabra – in einen Menschen verwandele: So oder so schneidet Abtreibung einen Lebensfaden ab und vernichtet eine Entität, die nach der Geburt alle „Kind“ nennen.
Und weil das so ist, kann dieser Streit niemanden kaltlassen, der Wert auf eine humane Gesellschaft legt. Dabei gilt es, sich klarzumachen: An sich ist Streit nichts Schlechtes. „Streit“, wusste schon Heraklit (um 520–460 vor Christus), ist vielmehr der „Vater aller Dinge“. Fair ausgetragen, den Kontrahenten als Person achtend, seine Argumente sorgsam wägend, „zeugt“ er Lösungen, die ohne ihn oft weder für „denkbar“ noch „notwendig“ gehalten wurden. Richtig zu streiten ist eine Kunst. Eine, die, weil „Kunst“ von „Können“ kommt, erlernt, geübt und kultiviert werden muss. Katholiken tun, wenn sie streiten, gut daran, sich des heiligen Thomas von Aquin (1224/25–1274) zu erinnern, der in seiner „Summa Theologiae“ lehrt, kein Mensch könne das Böse als Böses wollen, da sich sein Wille stets auf ein „Gut“ richte. Nur müsse das in der „Vorstellung“ erfasste Gut nicht auch tatsächlich eines sein. Daraus folgt zweierlei: Erstens, dass es keinen Grund gibt, den Kontrahenten zu verteufeln. Und: dass man viel aufwenden muss, um ihn davon zu überzeugen, dass er im Unrecht ist.
Mehr Hybris geht nicht
Leider wollen sich viele diese Mühe sparen. Das gilt auch für die, an denen sich die aktuellen Debatten entzündeten. Aus der Frage, ob Frauke Brosius-Gersdorf für einen Posten beim Bundesverfassungsgericht geeignet ist, ist nicht nur eine von ihr selbst angestoßene Debatte um die Interpretation des Koalitionsvertrags geworden, sondern auch eine um die Zulässigkeit der Annahme eines Naturrechts. Alles, was der Juristin, die inzwischen ihren Rückzug erklärt hat, dazu einfällt, ist, Kritikern eine Kampagne zu unterstellen und ihre Position zur einzigen „denklogischen“ zu erklären. Auch wer ihre Verletztheit ob einiger ungerechtfertigter Weiterungen der von ihr vertretenen Positionen einrechnet, muss feststellen: Mehr Hybris geht nicht. Anders formuliert: Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass Frauke Brosius-Gersdorf für das höchste Richteramt im Staate nicht qualifiziert ist, hat sie ihn mit ihrer Verzichtserklärung selbst erbracht.
Ähnlich verhält es sich in der Causa Joachim Volz. Der Gynäkologe hatte gegen seinen Arbeitgeber, das christliche Krankenhaus Lippstadt, geklagt. Das hatte Volz – nach Fusion mit einem katholischen Träger – angewiesen, Abtreibungen nur noch durchzuführen, wenn das Leben der Mutter auf dem Spiel steht. Der 67-Jährige, der mit seiner Frau auch eine Kinderwunschklinik in Bielefeld unterhält, wollte sich das nicht bieten lassen. Vergangenen Freitag entschied das Arbeitsgericht Hamm zugunsten des Beklagten. Wie Volz der Zeitschrift „Emma“ verriet, will er bis zum Europäischen Gerichtshof klagen. So weit, so in Ordnung. Nicht in Ordnung ist: Volz, der zugibt, Menschen mit Behinderungen im Mutterleib zu töten, bezichtigt die katholische Kirche, als Trägerin von Krankenhäusern Politik zu machen. In Wirklichkeit fällt der Vorwurf auf ihn selbst zurück. Volz hat nicht nur eine Petition für ein Recht auf Abtreibung gestartet, er lässt sich auch auf den Schild von „Doctors for Choice“ heben. Zum Streit gehört, sich ehrlich zu machen. Frauke Brosius-Gersdorf und Joachim Volz haben das nicht getan. Sie müssen nicht bedauert werden.
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