Kommentar um "5 vor 12"

Suizidhilfe: Schneller dem Abgrund entgegen

Acht Juristen legen einen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Suizidhilfe vor. Dabei wählen sie das große Gesteck. Ein Kommentar.
Debatte um Sterbehilfe
Foto: Jens Kalaene (dpa-Zentralbild) | Der Gesetzentwurf, der kein "schlichtes Reparaturgesetz des nichtig erklärten Paragrafen 217 StGB" (Rosenau) sein will, geht weiter als alles, was bisher von Politik und Sterbehilfeorganisationen vorgelegt wurde.

Wer ohne ideologische Scheuklappen durch die Welt spaziert, weiß längst, dass die Grenze zwischen der „ärztlich assistierten Beihilfe zum Suizid“ und der „Tötung auf Verlangen“ fließend ist. In den Niederlanden, die 2002 als erstes Land der Welt die Euthanasie legalisierte, ist aus der „Tötung auf Verlangen“ in nicht wenigen Fällen längst eine „ohne Verlangen“ geworden. Den Tiefpunkt dieses auch gesamtgesellschaftlichen Dramas bildete bislang der höchstrichterliche Freispruch einer Ärztin im vergangenen Jahr, die eine demenzkranke Frau auf Wunsch ihrer Angehörigen totspritze. Dabei wehrte sich die Frau so heftig, dass sie von ihren Angehörigen festgehalten werden musste.

Geht weiter als alles andere: Der „Augsburg-Münchner-Hallescher-Entwurf“

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Wer gleichwohl immer noch glaubt, hierzulande schützen die Erfahrungen, die Deutschland unter der NS-Herrschaft mit der Euthanasie sammelte, vor einer ähnlichen Entwicklung wie der in den Niederlanden, den dürfte der von acht Juristen um den Medizinrechtler Hennig Rosenau (Universität Halle) erarbeitete sogenannte „Augsburg-Münchner-Hallescher-Entwurf“ eines Schlechteren belehren.

Der Gesetzentwurf, der kein „schlichtes Reparaturgesetz des nichtig erklärten Paragrafen 217 StGB“ (Rosenau) sein will, geht weiter als alles, was bisher von Politik und Sterbehilfeorganisationen vorgelegt wurde. So sieht er etwa die Errichtung einer interdisziplinär besetzten Kommission vor, die Sterbewilligen, nach Beratung durch eine staatliche Beratungsstelle und Begutachtung durch einen Arzt, Zugang zu Präparaten ermöglichen soll, die sich zur Selbsttötung eignen. Wie es in der Begründung heißt, solle Sterbewilligen dadurch der Zugang zu einem selbstbestimmten Tod – „unabhängig von der Verschreibungsbereitschaft der Ärzte“ und „ohne dass Betroffene auf die Erlaubniserteilung“ des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) „angewiesen sind“ –ermöglicht werden.

Juristen wollen Tötung auf Verlangen aus dem Strafgesetzbuch streichen

Doch damit nicht genug: Der Gesetzentwurf sieht allen Ernstes auch die Streichung des § 216 („Tötung auf Verlangen“) aus dem Strafgesetzbuch vor. Wie in solchen Fällen üblich (vgl. embryonale Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik) wollen die Verfasser des Gesetzentwurfs die „Tötung auf Verlangen“ selbstverständlich nur in ganz wenigen Ausnahmefällen und als „ultima ratio“ ermöglichen, etwa für Menschen, die am sogenannten „Locked-In-Syndrom“ leiden. Doch der Anfang ist gemacht.

Es ist nicht zu ändern: Auf der Rutschbahn, die der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit seinem Urteil vom 26. Februar 2020 eröffnet hat, führt der Weg immer nur in eine Richtung. So gesehen schlagen die acht Juristen lediglich vor, gleich zu Beginn ein paar Kurven auszulassen. So gewinnt man an Tempo – dem Abgrund entgegen. Wird sicher ein Heidenspaß.

 

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Stefan Rehder Bundesverfassungsgericht Sterbehilfe Suizidhilfe

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