Bei den vielen inhaltlichen Wendungen, die Markus Söder in den letzten Jahren genommen hat, kann man schon einmal leicht den Überblick verlieren. Eine Fähigkeit ist dem CSU-Chef jedoch nicht abzusprechen: ein Gefühl für Trends. Wenn Söder also jetzt in einem großen Interview mit der „Bild am Sonntag“ die Ampelkoalition ins Visier nimmt und ihr vorwirft, der Kern ihrer Politik sei Umerziehung, dann müssen die Koalitionäre in Berlin nervös werden. Denn wenn Söder tatsächlich der Mann ist, der sein Mäntelchen gerne nach dem Wind hängt, kann die Ampel nun mit ordentlichem Gegenwind rechnen.
Söder treibt die Unionskollegen vor sich her
Der CSU-Chef hat dabei zwei Punkte in den Blick genommen, die auf den ersten Blick nicht unbedingt zusammengehören, sich aber im Gesamtpaket wirkungsvoll ausschlachten lassen. Einmal die gesellschaftlichen Umbaupläne der selbsternannten „Fortschrittskoalition“ – Selbstbestimmungsgesetz, Gendern, Paragraph 219a -, dann aber auch die materiellen Verwerfungen in Folge des Krieges. In beiden Fällen treibt er seine Kollegen von der Union vor sich her. Und obwohl Söder noch vor einer Woche bekannte, er habe keine Berliner Ambitionen mehr, mit diesem Vorstoß reklamiert der Franke für sich, Wortführer der Opposition zu sein.
Friedrich Merz kann vor allem Söders latente Kritik an der bisherigen Sanktionspolitik gegen Russland nicht schmecken. Der CDU-Chef hatte gerade noch gemahnt, Kriegsmüdigkeit und eine zunehmende Angst vor Wohlstandsverlust seien ein erster Schritt in Richtung Verrat an der Ukraine. Dabei hatte Merz vor allem die Bundesregierung im Blick. Wenn aber Söder nun genau diese Verlustängste aufnimmt, wie wird das von Merz bewertet? Deuten sich hier neue Konflikte zwischen Berlin und München an?
Politik für die Leberkäs-Etage
„Politik für die Leberkäs-Etage“ – so nennen die Bayern das, wenn sie bei ihrer Politik dem Volk aufs Maul schauen. Politik für den Stammtisch zu machen – das war für die CSU noch nie ein Vorwurf, sondern immer ein Kompliment. Die CSU sieht gerade in ihrem Sensorium für die sogenannten „kleinen Leute“ ihren Qualitätsnachweis als Volkspartei.
Insofern wäre es falsch, Söder jetzt einfach nur Populismus vorzuwerfen. Das „political animal“ weiß einfach, wie man Politik populär macht. Und das wirkt, egal ob nun reiner Opportunismus oder doch edlere Motive der Motor für die neuste Volte sind. Ob dieser Ansatz aber letztlich ausreicht, um die Debatte gerade auch über die gesellschaftspolitischen Experimente der Ampel intellektuell befriedigend zu führen, steht auf einem anderen Blatt.
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