Gesundheitsminister Karl Lauterbach reagierte vergleichsweise fix: „Das @rki_de (Robert Koch Institut, Anm. d. Red.) hatte ohnedies vor, mit meiner Zustimmung die RKI-Files des Corona-Krisenstabs zu veröffentlichen. Jetzt geschieht es ohne dass die Rechte Dritter, auch Mitarbeiter, vorher geschützt worden wären. Zu verbergen gibt es trotzdem nichts.“ Mit dieser Einschätzung auf der Plattform „X“ reagierte Lauterbach bereits nach wenigen Stunden auf die Veröffentlichung der unzensierten Protokolle des Corona-Krisenstabs, die ein anonymer Whistleblower an eine unter dem Pseudonym „Aya Velázquez“ bekannte Publizistin weitergegeben hatte. Wenngleich das RKI selbst später nachschob, die Protokolle nicht verifiziert zu haben, hat Lauterbach so die Echtheit der Dokumente, die die Jahre 2020 bis 2023 abdecken, wohl indirekt bestätigt. Damit ist nun ein deutlich größerer Zeitraum öffentlich dokumentiert als die eineinhalb Jahre zwischen Anfang 2020 und April 2021. Zu diesem Zeitraum waren bereits die (teilweise geschwärzten) RKI-Protokolle bekannt, die das Onlinemagazin „Multipolar“ im März diesen Jahres freiklagen konnte.
Die Auswertung der insgesamt etwa 4.000 Seiten, die seit gestern im Internet frei zugänglich sind, dürfte Medien und Wissenschaft noch länger beschäftigen. Einige Details haben allerdings schon für Aufmerksamkeit gesorgt. So ist etwa in einem Protokoll vom September 2021 eine direkte politische Einflussnahme auf die Arbeit des RKI dokumentiert. „Auf ministerielle Weisung“ sei ein zur Veröffentlichung vorgesehenes RKI-Papier zur Kontaktnachverfolgung noch um einen weiteren Passus zur „Freitestung“ ergänzt worden. Dazu ist unter der Rubrik „RKI-Intern“ festgehalten, eine „derartige Einflussnahme seitens des BMG (Bundesministerium für Gesundheit, Anm. d. Red.) in RKI-Dokumente“ sei „ungewöhnlich“, die Weisungsbefugnis des BMG werde „rechtlich geprüft“. Die RKI-Leitung gehe vorläufig davon aus, dass der Weisung des Ministeriums aber entsprochen werden müsse, da dieses die „Fachaufsicht“ habe und das RKI seine Empfehlung in der Rolle einer Bundesbehörde ausspreche. Das Protokoll vermerkt abschließend: „Die wissenschaftliche Unabhängigkeit des RKI von der Politik ist insofern eingeschränkt“.
Pandemie der Ungeimpften
Diese Einschätzung bezieht sich zwar nur auf die Unabhängigkeit von „technischen Dokumenten“, in diesem Fall einer Handlungsempfehlung, die zum Beispiel Gesundheitsämter nutzen sollten, steht aber dennoch im Kontrast zu Unabhängigkeits-Beteuerungen, die etwa Gesundheitsminister Lauterbach im März als Reaktion auf die Veröffentlichung der ersten „RKI-Files“ abgegeben hatte. Mit Bezug auf die Risikobewertungen des RKI, die zur Grundlage der Maßnahmen wurden, sagte Lauterbach: „Es gab keine politischen Weisungen“, und: „Das Robert Koch-Institut ist nicht weisungsgebunden, in die wissenschaftlichen Bewertungen des Instituts mischt sich die Politik nicht ein“. Damals war der Verdacht aufgekommen, hinter dem geschwärzten Namen des Verantwortlichen, der im März 2020 für eine Hochstufung der Risikobewertung „das Signal“ gab, stecke ein hochrangiger Politiker. Das RKI beteuerte im März 2024, es handele sich um einen Mitarbeiter des Hauses. Immerhin: Die nun ungeschwärzte Version des Protokolls belegt, dass es sich tatsächlich um den heutigen RKI-Präsidenten Lars Schaade handelte.
Vom Dissens mit den Einschätzungen des Gesundheitsministeriums unter dem damaligen Minister Jens Spahn (CDU) zeugen auch protokollierte Diskussionen über den Begriff „Pandemie der Ungeimpften“. Im Protokoll vom 05. November 2021 heißt es, dieser in den Medien kolportierte Begriff sei „aus fachlicher Sicht nicht korrekt“, da die Gesamtbevölkerung, also auch die Geimpften, beitrügen. Scheinbar maßgeblich für das RKI war aber auch eine darunter protokollierte Einschätzung: „Sagt Minister bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst, kann eher nicht korrigiert werden“. Spahn, so legt das Protokoll nahe, hat also bewusst inkorrekt kommuniziert, das RKI sich aber nicht im Stande gesehen, dem öffentlich zu widersprechen. Von der taktischen Motivation in der Kommunikation des RKI zeugt auch die darunter vermerkte Warnung, es solle „aufgepasst werden, wie kritisch man über den Impfstoff kommunizieren will, immerhin nach einem halben Jahr immer noch >90% Wirksamkeit. Wenn 95% geimpft wären, sähe die Situation anders aus".
Diskussion um 2G/3G-Regel
Das verstärkte Auftreten von „Impfdurchbrüchen“ führte zu dieser Zeit offenbar zu internen Kontroversen. So war am 10. November in der Bundespressekonferenz die Frage nach der Quarantänisierung Geimpfter nach Kontakt mit Infizierten aufgetaucht – eine mögliche Schutzmaßnahme, die nur schlecht zur anfänglichen Hoffnung passte, dass Geimpfte die Infektion nicht weitergeben würden. Wie sollte sich das RKI positionieren? „Empfiehlt man das, fällt die Grundlage für 2G/3G weg“, heißt es dazu im Protokoll. Logisch: der freie Zugang zu möglichen Übertragungsorten, wie etwa der Gastronomie, beruhte auch auf der Überzeugung, dass das Risiko einer Verbreitung der Infektion durch Geimpfte (und Genesene) klein, mindestens aber wesentlich geringer sei. Warum dann aber Geimpfte in Quarantäne schicken?
Ein anderer Anwesender wies jedoch schon zu diesem Zeitpunkt darauf hin, dass die Grundlage für 2G/3G der Schutz vor schwerer Infektion und damit der möglichen Überlastung von Intensivstationen sei. Die „zwei Drittel Schutz vor Infektion“, die die Impfstoffe böten, seien „kein guter Wert“, das „RKI sollte nicht kommunizieren, dass Geimpfte keine Überträger sind, da bald viele Menschen Geimpfte Übertragende kennen werden“. Allerdings, so ein weiterer Beitrag, sei es dem Gesetzgeber bisher „immer wichtig“ gewesen, „Benefits für Geimpfte“ herauszustellen. Klar wird aus den Protokollen, dass die durchdringende Erkenntnis vom mangelhaften Infektionsschutz durch die Impfungen ein kommunikatives Problem darstellte und das Argument für diskriminierende Regelungen, die auf den Impfstatus abstellten, schwächte. Trotzdem suchte das Gesundheitsministerium auch Monate später noch nach Möglichkeiten, Geimpfte weiter zu privilegieren: So heißt es im Protokoll vom 07. Januar 2022 zur anstehenden Aktualisierung der Einreiseverordnung: „BMG möchten (sic!) vermutlich Ausnahmen für Geboosterte für drei Monate. Geimpfte müssen irgendwelche Privilegien erhalten, dies muss in Einreiseregelung enthalten sein.“
Wie sich die damals politisch Verantwortlichen zu den neuen Erkenntnissen verhalten werden, bleibt die spannende Frage, die wohl noch nicht abschließend beantwortet ist. Der Zeitung „Welt“ schrieb Spahns Sprecher zur Frage nach der Ergänzung der RKI-Weisung vom September 2021, darauf könne er „aus der Erinnerung leider nicht beantworten“, Aktenzugang habe er nicht mehr. Immerhin fiel Spahn zum Thema „Pandemie der Ungeimpften“ ein, dass er damals nur darauf habe verweisen wollen, dass die „schwere und schwerste Verläufe“ sich „deutliche überproportional bei nicht-geimpften Covid-Patienten gezeigt“ hätten.
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