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Mehr Hirn, bitte!

Die „TikTok“-Gemeinde feiert ein fehlgeschlagenes Gedankenexperiment eines Jünglings zum Thema Abtreibung – Ein Kommentar.
Demo von Abtreibungsbefürwortern in Washington, D.C.
Foto: IMAGO/Sue Dorfman (www.imago-images.de) | Rund drei Millionen Aufrufe und mehr als 750.000 Likes verzeichnet auf der Social-Media-Plattform „TikTok“ das Video eines jungen Mannes, in dem dieser angeblich mittels eines einfachen „Gedankenexperiments“ die ...

Die Dummheit feiert Feste. Rund drei Millionen Aufrufe und mehr als 750.000 Likes verzeichnet auf der Social-Media-Plattform „TikTok“ das Video eines jungen Mannes, in dem dieser angeblich mittels eines einfachen „Gedankenexperiments“ die Argumente von Abtreibungsgegnern entkräftet.

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Die Argumentation des jungen Mannes, der auf den Namen John Jameson hört, geht so: Wenn seine Mutter heute im US-Bundestaat Tennessee mit ihm schwanger wäre, verböte ihr das dortige Gesetz, ihn abzutreiben. „Sagen wir, sie bringt mich auf die Welt und 20 Jahre später habe ich ein Nierenversagen und brauche eine Transplantation, um zu überleben. Und meine Mutter ist die einzige passende Spenderin.“ Selbst in diesem Fall gebe es, so Jameson, kein Gesetz, das seine Mutter verpflichte, ihm eine Niere zu spenden. Sogar als Leiche wöge die körperliche Autonomie seiner Mutter so schwer, dass ihr keine Niere entnommen werden dürfe, um ihm das Leben zu retten.

Der fehlerhafte Versuchsaufbau

Jamesons „Gedankenexperiment“ soll zeigen, für wie zentral Staat und Gesellschaft den Schutz der körperlichen Autonomie erachteten; nämlich so bedeutend, dass man ihn eher sterben ließe als von außen in die körperliche Autonomie seiner Mutter einzugreifen. Dumm nur, dass an diesem „Gedankenexperiment“ so gut wie alles falsch ist.

Das beginnt schon beim Versuchsaufbau. Leichen eignen sich nicht als Organspender. Aus einer Leiche transplantierte Organe bewahren deshalb auch niemanden vor dem Tod. Das können nur „lebensfrische“. Dass niemand auf die Idee kommt, Leichen Organe zu entnehmen, um anderer Menschen Leben zu retten, hat nichts mit dem Stellenwert körperliche Autonomie zu tun, sondern damit, dass es unmöglich ist, die Organe einer Leiche erfolgreich zu transplantieren. Dass Jameson das nicht weiß, sollte man ihm nicht anlasten. Die Rede von der „postmortalen Organspende“ führt medizinische Laien in die Irre und lässt sie über die der Transplantationsmedizin gesteckten, unverrückbaren Grenzen im Unklaren.

Das Recht auf körperliche Autonomie ist Abwägungen zugänglich

Was Jameson allerdings wissen könnte, ist, dass die Praxis gerichtlich angeordneter Obduktionen seine Behauptung widerlegt, dass die körperliche Autonomie eines Menschen selbst nach seinem Tode für unantastbar gehalten wird. Gerichtlich angeordnete Obduktionen, gibt es immer wieder, so etwa beim Verdacht von Straftaten wie Mord und Totschlag. Mit anderen Worten: Auch wenn es ein Recht auf körperliche Autonomie gibt, ist es doch Abwägungen zugänglich und gerade nicht enthoben.

Die Wahl des Arguments zeigt, dass Jameson, den Fötus – ähnlich wie eine Niere – als Teil einer Schwangeren betrachtet. Das ist aber eine falsche und daher unzulässige Betrachtungsweise. Aus einem Teil eines Organismus, hier der Uterus, entwickelt sich nie ein anderer eigenständiger Organismus. Teile eines Organismus zeichnen sich auf der Strukturebene der Zellen dadurch aus, dass sie das gleiche Genom besitzen. Das Genom eines Embryos ist aber von dem der Mutter verschieden. Der Embryo ist folglich nicht Teil des Organismus der Schwangeren, sondern ein eigenständiger Organismus, der für die Dauer der Schwangerschaft im Organismus der Frau heranreift.

Die nachträgliche Korrektur unerwünschter Nebenfolgen

Möglich ist das nur, weil die Mutter – außer im Falle einer Vergewaltigung – unter Verwirklichung ihrer körperlichen Autonomie, an dessen Zeugung mitwirkte. Es mag ja sein, dass die Schwangere die Zeugung als unerwünschte Nebenwirkung betrachtet. Nur müssen Staat und Gesellschaft Menschen für sämtliche Folgen verantwortlich erachten, die unmittelbar aus ihren Handlungen erwachsen, und können sich dabei nicht bloß auf die erwünschten beschränken. Die Existenz des Fötus steht also gar nicht der körperlichen Autonomie der Schwangeren entgegen, sondern ist lediglich eine der möglichen Folgen ihres Gebrauchs ebenjener.

Staat und Gesellschaft sind keineswegs verpflichtet, Menschen in allen Fällen am fahrlässigen Gebrauch ihrer körperlichen Autonomie zu hindern. Aber dort, wo Dritten Schaden droht, etwa bei Körperverletzungen, sexuellem Missbrauch oder gar Angriffen auf das Leben, verhält es sich anders. So auch bei der Abtreibung. Sie muss als vorgeburtliche Kindstötung mit dem Ziel betrachtet werden, die unerwünschte Folge des Gebrauchs der körperlichen Autonomie der Schwangeren nachträglich zu „korrigieren“.

Kein Widerspruch – nirgends

Das Verbot von Abtreibungen im US-Bundestaat Tennessee steht daher keineswegs im Widerspruch zum Recht auf körperliche Autonomie. Es schützt vielmehr die körperliche Integrität von Menschen, die von der versuchten Korrektur der Folgen des fahrlässigen Gebrauchs der körperlichen Autonomie ihrer Erzeuger bedroht werden.

Dass Menschen, gleich welchen Alters, falsche Gedanken im Brustton der Überzeugung verbreiten, ist kein Verbrechen, sondern bloß dumm. Für deren Adelung mit Likes gilt dasselbe. Etwas anderes wäre es, wenn Universitäten, Schulen und Medien, dies nicht als Bildungsauftrag verständen. Was? Ein ziemlich dicker Hund natürlich.

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