Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Kommentar um "5 vor 12"

Merkel und das deutsche Selbst

Mit ihrer Ansprache an die Nation hat Angela Merkel ihre Kritiker nicht überzeugt. Die deutsche Bevölkerung schon.
Coronavirus - Merkel hält Fernsehansprache
Foto: Steffen Kugler (Bundesregierung) | Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) aufgenommen bei der Aufzeichnung einer Fernsehansprache im Bundeskanzleramt zum Verlauf der Corona-Pandemie.

Angela Merkel hat sich in einer Ansprache an die Nation gewandt. Sie beschwor Vernunft, Eigenverantwortung, Gemeinsinn. Alles nicht falsch. Aber fehlte nicht etwas? Im Hintergrund wehte zwar die deutsche Fahne, aber wo war der Patriotismus? Klar, mit Helmut Kohls obilgatorischer Schlussformel "Gott segne unser deutsches Vaterland" war bei Merkel sowieso nicht zu rechnen. Aber vielleicht wenigstens ein bisschen Pathos? Etwas fürs schwarz-rot-goldene Herz?

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Ihre absolute Nüchternheit ist Merkels Testosteron

Angela Merkel versteht sich nicht als ein "Commander-in-chief" der Nation. Ihre absolute Nüchternheit ist ihr Testosteron. Dass dieser Habitus ihre Kritiker nervt, verstört, verzweifeln lässt, ja sogar in den politischen Widerstand treibt, ist sattsam bekannt. Und doch spricht vieles dafür, dass die Kanzlerin mit genau dieser Art einer Grundstimmung in der Bevölkerung entspricht. Man darf nicht vergessen: Sie ist immer wieder gewählt worden. Und auch jetzt hat Merkel gute Umfragewerte. Das alles mag Kritiker zur Verzweiflung bringen, aber zwischen der Kanzlerin und ihrem Volk gibt es offenbar einen Übereinstimmung in bestimmten Grundwerten.

Für Merkel ungewöhnlich, hat sie diese nun sogar klar benannt und sogar um eigene biographische Erfahrungen ergänzt.: Vernunft und Eigenverantwortung. "Wir selbst" - das waren die Schlüsselworte in der zentralen Passage, in der Merkel ausführte, dass eben jeder selbst mit dazu beitragen müsse, die Krise zu überstehen. Sie leitete davon eine Solidarität aus Vernunft ab. Und sie machte auch deutlich, dass aus ihrer Sicht die Erkenntnis dessen, was vernünftig sein soll, nicht verordnet werden könne. Hier sei eben die Eigenverantwortung gefragt. Deswegen noch keine Ausgangssperre. Und hier der biographische Hinweis: Als ehemalige DDR-Bürgerin wisse sie, wie Freiheit durch Mobilitätsbeschränkungen begrenzt werde.

Auf die Mehrheit hat ihre Rede beruhigend gewirkt - vorerst

Man mag diesen Ansatz für nicht tragfähig halten. Und auch nicht für krisenkompatibel. Aber das sind genau die Richtwerte, nach denen heute ein Großteil der Bevölkerung sein Leben ausrichtet: Vernunft, Eigenverantwortung und Mobilität als Freiheitserfahrung. Man kann der Kanzlerin schwerlich vorwerfen, dass sie in der Krise auf einen Schulterschluss mit der Bevölkerung setzt. Zumal es auch ihre eigenen Werte sind. Allerdings reicht es nicht aus, die einfach nur zu beschwören. Politische Führung hieße, dass sie auch dann nicht von dieser Linie abweicht, wenn sich die Situation noch weiter zuspitzt. Die Ausgangssperre steht weiter im Raum. Vorerst hat ihre Rede auf die Mehrheit beruhigend gewirkt. Einmal durchatmen zu können, ist in der Krise schon ein Gewinn. Wenn auch nur ein kleiner.

Morgen wird ein "5 vor 12"-Kommentar die Ansprache der Kanzlerin aus einer anderen Perspektive beleuchten

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