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In Orbáns Orbit: Ungarn, ein Sehnsuchtsland?

Für viele Deutsche, die sich rechts der Mitte verorten, ist Ungarn zu einer konservativen Leitnation geworden – warum ist das so? Ein neues Buch von Politik-Professor Werner Patzelt kann Aufschluss bieten.
Ungarns Premierminister Viktor Orbán
Foto: IMAGO/Lafargue Raphael/ABACA (www.imago-images.de) | Einsamer Wolf oder Führungsfigur? An Ungarn unter Viktor Orbán scheiden sich die Geister.

Ein Abend in der ungarischen Botschaft in Berlin: Gleich wird hier das neue Buch von Politik-Professor Werner Patzelt vorgestellt. „Ungarn verstehen“, heißt es. Einen ersten Zugang zu einem Verständnis, wie Ungarn tickt, liefert aber schon der Botschafter, Péter Györkös. Denn der leitet ganz überraschend ein: Györkös erinnert an Andreas Brehme. Der gerade verstorbene Fußballnationalspieler sei mit seinem entscheidenden Tor bei der WM im Schicksalsjahr 1990 auch für die Ungarn zum Symbol geworden. Man habe ihn verehrt und sich damals für die Deutschen gefreut, diesen Sieg im Jahr der Wiedervereinigung errungen zu haben.

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Heute sei das leider anders. Damit spielte der Botschafter auf den Juni 2021 an. Damals war die Münchner Allianz-Arena in Regenbogenfarben erstrahlt, als Deutschland gegen Ungarn zu einem Länderspiel antrat. Budapest wertete das als Affront. Und genau so war es wohl auch gedacht. Das Regenbogenlicht richtete sich gegen die LGBT-Politik der ungarischen Regierung.

Geht man so mit Freunden um?

Geht man so mit Freunden um? Das fragen sich viele Ungarn seither – wie überhaupt sich ein Leitmotiv durch diesen Abend zieht: Es ist das von der zurückgewiesenen Zuneigung. Auf der einen Seite, so zumindest die ungarische Argumentation, eine große Verbundenheit und Sympathie, auf der deutschen hingegen Unverständnis für die ungarische Politik und schroffe Ablehnung. Ja, für die Medien des Establishments in Deutschland sei Ungarn so etwas wie eine Negativ-Leitnation geworden. Der Botschafter brachte ein Beispiel: In einer bekannten deutschen Zeitung, er nannte den Namen nicht, sei allein in einer Ausgabe 52 Mal der Name von Viktor Orbán gefallen, aber nicht einmal in einem positiven Zusammenhang. 

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Foto: privat / dpa | Woche für Woche berichtet unser Berlinkorrespondent in seiner Kolumne über aktuelles aus der Bundeshauptstadt.

Allerdings – und vielleicht ist dies sogar eine ungeplante Folge des Ungarn-Bashings durch den Mainstream – entwickelt sich das Land für das politische Spektrum rechts der Mitte in Deutschland immer mehr zu einem Orientierungspunkt. Mit seiner Gesellschaftspolitik, mit seiner Familienpolitik. Mit seiner Außenpolitik, vor allem der Haltung gegenüber Russland und der Ukraine, wird es schon schwieriger. Allerdings: Hier durchzieht dieses politische Spektrum sowieso zunehmend ein Riss. 

Patzelts Buch will verstehen, aber nicht entschuldigen

Kurz: Die Gemengelage rund um das deutsch-ungarische Verhältnis ist äußerst komplex. Und so kommt das neue Buch von Werner Patzelt eigentlich genau zum richtigen Zeitpunkt. Wenn, ja wenn es auch eine entsprechend vorurteilsfreie Leserschaft finde. In einer Rezension wurde dem Politikwissenschaftler vorgeworfen, er betreibe pro-ungarische Propaganda.

Patzelt ist seit 2022 Forschungsdirektor des Mathias Corvinus Collegiums in Brüssel, eines regierungsnahen Think Tanks aus Ungarn. Wer aber Patzelts Buch liest, muss feststellen, dass es ihm sehr wohl darum geht, zu verstehen, wie Ungarn aus seiner Geschichte heraus zu dem Land geworden ist, das es ist, mit der Gesellschaft, die so tickt wie sie tickt, und mit einer Regierung, die so handelt, dass sie immerhin mehrmals sehr eindeutig wiedergewählt worden ist. Verstehen zu wollen, heißt aber eben nicht, alles entschuldigen zu können. Dieser Einsicht folgt Patzelt, so stellt er etwa in einem Kapitel über das „Orbán-Land“ auch die vielen Korruptionsprobleme im Umfeld der Regierung dar. 

Vergleich zwischen Orbán und Franz Josef Strauß

Aber der Politikwissenschaftler schüttet eben nicht das Kind mit dem Bade aus. Natürlich weiß auch Patzelt, dass Vergleiche hinken, aber sie können doch wichtige Aspekte hervorheben. Ungarn sei in gewisser Weise Bayern in den Hochzeiten der absoluten CSU-Dominanz vergleichbar. Auch damals seien viele Posten mit Parteispezis in zentralen Institutionen und Organisationen des Freistaates besetzt worden, auch in den Medien.

Und trotzdem hätte, abgesehen von Spinnern von linksaußen, damals niemand behauptet, In Bayern sei die Demokratie abgeschafft worden. Viktor Orbán sei, wenn man in diesem Bild bleiben will, so etwas wie „ein Franz Josef Strauß in dritter Potenz“.

Dann das Wort vom „illiberalen Staat“. Orbán hatte diesen Begriff in einer Rede im Jahr 2014 geprägt und so die von ihm gewünschte Staatsform für sein Land beschrieben. Das sorgt auch heute noch für Aufregung, schließlich scheint es auf den ersten Blick so, hier werde der Gegenentwurf zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung formuliert. Für Patzelt ist genau das nicht der Fall. Denn der Begriff von „Liberalismus“ sei hier eben ein anderer als in unseren Debatten gewöhnlich. „Liberal“ sei hier eher im Sinne von „neoliberal“ zu verstehen. Für Orbán stünde dieses Attribut vor allem für soziale Kälte, der er etwa mit seiner Familienpolitik- und Gesellschaftspolitik entgegentreten wolle. Diese Positionen, zumindest aus Orbáns Sicht, entsprächen alten christdemokratischen Vorstellungen. Orbán betont tatsächlich immer wieder, dass er sich in der Tradition Helmut Kohls sehe. Er war einer der letzten prominenten Besucher des Alt-Kanzlers, bezeichnenderweise an einem 19. April, dem Todestag Konrad Adenauers.

Das Publikum ist bunt gemischt

Doch trotz solcher symbolischen Gesten, Orbáns Fidesz schied aus der Europäischen Volkspartei im Europaparlament aus. Jetzt wird er bei der Fraktion der „Europäischen Konservativen und  Reformer“ andocken, wo Giorgia Melonis „Fratelli d'Italia“ die dominante Kraft sind. Folgt man Patzelts Argumentation, dann lag in dieser Bewegung von Fidesz kein Automatismus.

Interessant ist, wer den Ausführungen des Professors in der Botschaft unweit des Brandenburger Tores alles folgt. Das Publikum ist bunt gemischt. Hier sitzen sowohl der ehemalige Chefredakteur der „Bild“ und enge Kohl-Vertraute, Kai Diekmann, wie Erika Steinbach, früher CDU, jetzt Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung.  Man wird sehen, was sie aus den Erkenntnissen machen.

Was sagt Werner Patzelt zu Orbáns Vorstellung von einer „illiberalen Demokratie“? Und warum kann Viktor Orbán mit Franz Josef Strauß verglichen werden? Lesen Sie dazu mehr in der nächsten Ausgabe der "Tagespost".

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Sebastian Sasse Viktor Orbán

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