Das neue Migrations- und Asylpaket der EU ist leicht zu kritisieren: Den einen ist es zu scharf und viel zu rigoros; sie fürchten – mit guten Argumenten – unwürdige Zustände für Familien und unbegleitete Minderjährige sowie mangelnde Solidarität und pauschale Abschiebungen. Den anderen ist es zu weich und zu wenig rigoros; sie fürchten – ebenfalls mit guten Argumenten – dass die geplanten Maßnahmen den anhaltenden Strom der Migranten nach Europa nicht wesentlich reduzieren und deren Rückführung im Zweifel kaum verbessern wird.
Ein Kompromiss, der niemanden glücklich macht
Das am Mittwoch nach jahrelangem Tauziehen überraschend präsentierte Paket ist ein Kompromiss und macht niemanden glücklich. Das liegt weniger an den Verhandlern als an der Wirklichkeit: Wir leben in einem Zeitalter vielfältiger Völkerwanderungen, die die Zielländer objektiv überfordern und politisch nicht wirklich zu managen sind. Die Alternativen zu einem Kompromiss auf EU-Ebene haben jedenfalls nicht funktioniert: Griechenland kann ebenso wenig der Türhüter für die „Westbalkan-Route“ sein wie Italien und Malta die Erstaufnahmeländer für die gesamte „Zentrale Mittelmeer-Route“ sein können.
Die EU war gefordert und hat nun – anders als in den Krisenjahren 2015/16 – tatsächlich einen Kompromiss gefunden. Das liegt an dieser Erfahrung der Hilflosigkeit, die einige Länder damals und andere etwas später machten: Kein europäischer Einzelstaat kann einer Massenflucht aus Nahost und Afrika oder einer politisch gesteuerten Infiltration (zuletzt aus Belarus und Russland) alleine standhalten. Da bedarf es zunächst der Solidarität der EU-Mitgliedstaaten untereinander. Weil sich 2016 gezeigt hat, dass EU-Staaten nicht zur Umsetzung von Flüchtlings-Quoten in der Aufnahme gezwungen werden können, wurde Solidarität jetzt breiter definiert. Die Alternativen wären ein Auseinanderbrechen der EU oder ihrer Zuwanderungspolitik gewesen – also auch keine Lösung.
Unsere Sozialsysteme haben Belastungsgrenzen
Während die Regierenden mit dem erarbeiteten Kompromiss halbwegs zufrieden sind, kommt Kritik – wenig überraschend – von den politischen Rändern, von NGOs sowie von kirchlichen Würdenträgern und Vereinen. Gewiss, die Kirchen und karitativen Organisationen müssen die höchsten ethischen Standards anmahnen und an die Würde jedes Menschen erinnern, gleich aus welchen Motiven und Beweggründen sich jemand aus Afrika oder Asien auf den Weg nach Europa macht. Die Stimmungslage in den reichlich heterogen gewordenen Gesellschaften Europas, die wachsende Polarisierung und die Belastungsgrenzen der Sozialsysteme dürfen aber auch Bischöfe und Kirchenfunktionäre in den Blick nehmen.
Eine unbegrenzte, nicht regulierte Aufnahme von Migranten wäre nicht nur eine Einladung an Millionen weiterer Menschen, die auch lieber in Deutschland und Österreich als in Afghanistan oder im Kongo leben möchten. Sie würde die Sozial- und Rechtssysteme in Europa in den Kollaps treiben. Damit wäre dann aber niemandem gedient, auch nicht jenen, die berechtigterweise um Asyl bitten und Schutz erhoffen dürfen. Die Staaten Europas werden gar kein Problem mehr lösen können, wenn sie alle Probleme der Welt importieren. Die traurige Wahrheit lautet, dass wir in der Asyl- und Migrationspolitik auch in Zukunft mit Kompromissen leben müssen.
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