Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung 80 Jahre Kriegsende

Der 8. Mai und die Geschichtspolitik

Der Umgang der Bundesrepublik mit dem NS-Erbe zwischen Fiktionen und Fakten.
Andenken an Judenverfolgung, Stolpersteine
Foto: IMAGO/Winfried Rothermel (www.imago-images.de) | Stolpersteine zur Erinnerung an von den Nazis verfolgte, gequälte und ermordete jüdische Mitbürger.

In diesen Tagen gedenkt Deutschland des Kriegsendes in Europa vor 80 Jahren. Am 8. Mai 1945 endete eine totalitäre Diktatur sondergleichen. Das NS-Regime hatte einen beispiellosen Angriffskrieg entfesselt und einzigartige Massenverbrechen fabrikmäßig begangen. Hitler und seine Helfer hatten dadurch eine moralische Katastrophe verursacht und Deutschland aus dem Kreis der zivilisierten Staaten herausgeführt.

Gerade nach einer solchen Geschichte stellt sich die Frage nach dem angemessenen Umgang mit ihr. Dazu gehört es zunächst, festzustellen: Der 8. Mai 1945 bedeutete keine Stunde Null. Vielmehr agierten nach Kriegsende – trotz tiefgreifender Umbrüche – auch NS-belastete Figuren in einigen Spitzenfunktionen der Bundesrepublik (und der SED-Diktatur), darunter der Vertriebenen-Minister Theodor Oberländer. Andererseits hatten sich maßgebliche Gründer des demokratischen Weststaates wie Konrad Adenauer, Eugen Gerstenmaier und Kurt Schumacher vom Nationalsozialismus ferngehalten oder die Hitler-Diktatur gar aktiv bekämpft.

Ein wichtiges Signal gegen manche Widerstände setzte die damalige Bundesregierung unter Adenauer mit ihrer politisch und rein moralisch gebotenen Politik der „Wiedergutmachung“ gegenüber Israel und dem Judentum. Zudem verbot das Bundesverfassungsgericht auf Antrag der Regierung Adenauer bereits 1952 die „Sozialistische Reichspartei“ (SRP) als Formation glühender und gläubiger Hitler-Anhänger. Gerade das SRP-Verbot und das KPD-Verbot 1956 halfen „der jungen Demokratie durchzuhalten, bis die ersten politischen und ökonomischen Erfolge sichtbar und spürbar wurden“ (Peter Graf Kielmansegg).

Der Fall Albert Speer als Symptom 

Zuvor hatten manche Haupttäter wie Albert Speer im Nürnberger Prozess ihren Kopf aus der Schlinge gezogen und nur eine geringe Strafe erhalten – gemessen an ihrer   Mittäterschaft an Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Vor allem am massenhaften Judenmord wollte der Teflon-Nazi Speer nicht beteiligt gewesen sein – er wollte davon nicht einmal gewusst haben. Typisch seine Bemerkung, ihm sei es „peinlich zu sagen, dass ich als Reichsminister von der sogenannten Endlösung der Judenfrage keine Kenntnis hatte“. Sogar als Widerständler wollte er in Nürnberg zeitweise gelten.

Welche Rolle Speer nach seiner Haftentlassung 1966 in der bundesdeutschen Gesellschaft spielte, lässt bereits eine Anekdote aus der Autobiographie Marcel Reich-Ranickis erahnen. So erhielt der Literaturkritiker mit seiner Frau Tosia Mitte der 70er Jahre eine Einladung zu einem Empfang eines renommierten Verlages. Als das Paar auf der Veranstaltung eintraf, bemerkte es eine Menschentraube um einen Gast, den damaligen Bestseller-Autor Albert Speer. Das verschlug dem Paar natürlich fast den Atem.

Mit seinen Büchern und Auftritten gerierte sich Speer damals als Topzeitzeuge, der als langjähriger Hitler-Vertrauter aus nächster Nähe über den Diktator und sein Regime berichten konnte. Zugleich betonte der Architekt aus kirchenfernem Großbürgertum gern seine angebliche Distanz zum Nationalsozialismus samt seinen primitiven Parvenüs mit groben Visagen und Stiernacken. Gerade der Historiker Magnus Brechtken zerlegt und zertrümmert in seiner Speer-Biografie viele Lügengebäude des NS-Architekten.

Speer beteiligte sich nachweislich am Ausbau des KZ-Systems

Mit einschlägigen Dokumenten belegt Brechtken die Anwesenheit Speers bei Himmlers Posener Rede am 6. Oktober 1943, in der es hieß: „Es trat an uns die Frage heran: Wie ist es mit den Frauen und Kindern? Ich habe mich entschlossen, auch hier eine ganz klare Lösung zu finden. Ich hielt mich nämlich nicht für berechtigt, die Männer auszurotten – sprich also umzubringen oder umbringen zu lassen – und die Rächer in Gestalt der Kinder für unsere Söhne und Enkel groß werden zu lassen. Es musste der schwere Entschluss gefasst werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen. Für die Organisation, die den Auftrag durchführen musste, war es der schwerste, den wir bisher hatten. Er ist durchgeführt worden“. Notorisch bestritt Speer seine Präsenz bei dieser Rede – bis ein Brief Speers auftauchte, in dem er seine Anwesenheit selbst bestätigte.

Speer wusste nicht nur von den NS-Massenmorden, sondern beteiligte sich nachweislich am Ausbau des KZ-Systems. Ebenfalls engagierte er sich für die Verlängerung des Krieges und trug damit Mitverantwortung für Millionen Tote. Letztlich zeigt Brechtkens wissenschaftliche Hinrichtung des vermeintlich „noblen Nazis“, wie der Rüstungsminister nach dem Krieg seine Lügen bzw. Halbwahrheiten verbreitete und damit lange Zeit kaum auf Kritik stieß. Vielmehr errang er als willkommener Entlastungszeuge bei ehemaligen Mitläufern viel Zustimmung, weil selbst er von NS-Massenverbrechen keine konkrete Kenntnis gehabt haben wollte, wie er behauptete. Sogar Willy Brandt hatte Speers Tochter Hilde zur Haftentlassung ihres Vaters 1966 Blumen geschickt.

Die meisten Deutschen, darunter Millionen Ex-NSDAP-Mitglieder, bekannten sich nach dem Krieg, bei wachsendem Wohlstand, erst allmählich zur rechtsstaatlichen Demokratie – aus opportunistischen Gründen oder aus innerer Überzeugung. Regierung und Opposition konnten sich damals eben kein neues Volk suchen. Dafür war die Zahl der NS-Verstrickten nach dem Krieg zu hoch. Alle NS-Belasteten politisch auszuschließen, hätte wie ein Förderprogramm für Rechtsextremismus wirken können. Erst mit wachsendem Abstand zur Hitler-Zeit stieg langsam die Ablehnung des „Dritten Reiches“ durch die Mehrheit. Die abstrakte Abkehr von Hitler in Umfragen begleitete lange Zeit freilich eine oft schwache Neigung, konkrete Fragen nach persönlicher Mitverantwortung bzw. Schuld zu beantworten.

Nicht nur Weizsäcker, auch Kohl sagte Wegweisendes

Die wegweisende, fast kanonische Rede über das Kriegsende hat nach landläufiger Meinung am 8. Mai 1985 Richard von Weizsäcker gehalten. Der damalige Bundespräsident kennzeichnete darin den 8. Mai 1945 weniger als Tag der Kapitulation und Niederlage, sondern als einen Tag der Befreiung: „Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Diktatur." Hierbei übergehen viele Beobachter weiterhin die Ansprache Helmut Kohls bereits am 21. April 1985 in Bergen-Belsen zum 40. Jahrestag „der Befreiung der Gefangenen aus den Konzentrationslagern" wie Dachau, Buchenwald und Auschwitz. In seiner Rede hatte der Bundeskanzler nicht nur an die Millionen NS-Opfer erinnert, sondern den 8. Mai bereits einen „Tag der Befreiung" genannt. Das ignorieren vor allem einige Intellektuelle bis heute, weil sie den Kanzler der deutschen und europäischen Einigung weiterhin eher auf oberflächliche und unpolitische Art betrachten.

Gerade heute zählt die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur zu den wichtigen Aufgaben für alle Demokraten der unterschiedlichen Überzeugungen. Zugleich gilt es nun verstärkt, die aktuellen Feinde der Freiheit im Innern und Äußeren kontinuierlich und konsequent zu benennen und zu bekämpfen – und das nicht nur an Jahres- und Gedenktagen.


Der Autor ist Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Extremismusforschung. Er veröffentlichte unter anderem „Die neue NPD. Antidemokraten im Aufwind“ (2007) und (zusammen mit Rudolf van Hüllen) „Linksextrem – Deutschlands unterschätzte Gefahr. Zwischen Brandanschlag und Bundestagsmandat“ (2011).

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