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Nacht der Schande

Zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht: Über den Umgang der Bundesrepublik mit dem NS-Unrecht.
Synagoge von Hannover in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938.
Foto: Historisches Museum Hannover | Die Synagoge von Hannover in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938.

Jedes Jahr gedenkt die Bundesrepublik der Reichspogromnacht am 09. November 1938. Das Datum gehört zu den wichtigsten ihrer Geschichte. In dieser Nacht demütigten, misshandelten, verhafteten und ermordeten Hitlers Helfer zahlreiche Juden in Deutschland. Darüber hinaus demolierten oder zerstörten sie viele Synagogen, Geschäfte und Wohnungen von Juden. Damals begann die systematische Vernichtung fast des gesamten Judentums in Europa. Der 85. Jahrestag der Reichspogromnacht bietet einen guten Anlass, an den Umgang der Bundesrepublik mit den NS-Massenverbrechen gegen die Menschlichkeit zu erinnern.

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Nach Hitlers Herrschaft mit Massenpropaganda und Massenmorden gab es keine Stunde null. Vielmehr existierten in der frühen Bundesrepublik – neben tiefgreifenden Umbrüchen – auch problematische, insbesondere personelle Kontinuitäten in einigen Spitzenfunktionen. Auch wenn sich maßgebliche Gründer der Bundesrepublik wie Konrad Adenauer, Eugen Gerstenmaier, Kurt Schumacher und Carlo Schmid vom Nationalsozialismus fern gehalten oder die Hitler-Diktatur gar aktiv bekämpft hatten: In öffentlichen Ämtern agierten nach dem 8. Mai 1945 tatsächlich auch viele Leute wie zum Beispiel jene Richter, die schon Roland Freisler gedient hatten, dem Chef des „Volksgerichtshofs“.

Zahl der NS-Verstrickten nach dem Krieg zu hoch

Zwar basierten bereits sowohl die Verfassungsordnung als auch die innen- und außenpolitischen Grundlinien der Bundesrepublik auf einem Anti-Hitler-Konsens. Doch erreichten nach „Weimar“ und Hitler rechtsextremistische Parteien in der Bundesrepublik frühzeitig Wahlerfolge. Insbesondere die „Sozialistische Reichspartei“ (SRP) und später vor allem die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) versuchten, Anhänger hinter sich zu scharen, phasen- und gebietsweise mit Erfolg.

Die Mehrheit der Deutschen, darunter (ehemalige) Hitler-Anhänger in hoher Zahl, bekannte sich nach dem Krieg erst allmählich zur rechtsstaatlichen Demokratie – aus innerer Überzeugung oder auch nur aus Opportunismus. Schließlich lebte Mitte 1945 in Deutschland unter rund 65 Millionen Einwohnern ein hoher Anteil früherer NSDAP-Mitglieder mit ihren Familien. Hinzu kamen Millionen Mitläufer. Darunter gab es viele Leute mit starker Skepsis gegenüber der Demokratie. Hinzu kommt: Nicht nur nach dem Ersten, sondern auch nach dem Zweiten Weltkrieg litten zahlreiche Deutsche soziale Not. Viele Familien betrauerten ihre Gefallenen und bangten um Vermisste oder Kriegsgefangene. Das minderte oft ihre Fähigkeit und Bereitschaft, sich mit eigenen Verstrickungen zu befassen.

Die baldige Integration der jungen Bundesrepublik in den antitotalitären Abwehrriegel der Westalliierten leistete ebenfalls keinen Beitrag, die Auseinandersetzung mit Hitlers Angriffskrieg und den NS-Verbrechen zu fördern oder gar Empathie mit Opfern zu zeigen. Das damalige Engagement gegen den roten Totalitarismus im Osten nährte die Neigung, die Vergangenheit des braunen Totalitarismus zu verdrängen. Alle gemäßigten Parteien versuchten damals daher auf unterschiedliche Weise, das große Wählerpotenzial an früheren Mitläufern für sich und damit die Demokratie zu gewinnen. Hierbei dominierte üblicherweise das Ziel, neue Wähler – auch im Wettbewerb mit rechtsextremistischen Parteien – zu gewinnen, gegenüber ethischer Konsequenz im Umgang mit NS-belasteten Personen. Dafür war die Zahl der NS-Verstrickten nach dem Krieg zu hoch. Alle NS-Belasteten politisch auszuschließen, hätte wie ein Förderprogramm für Rechtsextremismus wirken können. Eine politische Gegenelite aus dem Widerstand gegen Hitler wäre wiederum nach den Rachemorden des Dikators infolge des 20. Juli 1944 allein quantitativ zu schwach gewesen und hätte in der Nachkriegsgesellschaft wohl kaum Mehrheiten erringen können, wie demoskopische Stimmungsbilder von damals nahelegen.

Ablehnung des „Dritten Reiches“ als Kernelement der politischen Kultur 

Gerade auch durch den wirtschaftlichen Aufschwung, der bald nach dem Krieg einsetzte, gelang es später immerhin, Millionen von Entwurzelten schrittweise zu integrieren. Zudem half unter anderem das von der Bundesregierung beantragte und vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochene SRP-Verbot 1952 (sowie das KPD-Verbot 1956) „der jungen Demokratie durchzuhalten, bis die ersten politischen und ökonomischen Erfolge sichtbar und spürbar wurden“ (Peter Graf Kielmansegg). Ein wichtiges Signal gegen manche Widerstände setzte die Bundesregierung unter Adenauer auch mit ihrer politisch und rein moralisch gebotenen Politik der „Wiedergutmachung“ gegenüber Israel und dem Judentum.

Mit wachsendem Abstand zur Hitler-Zeit avancierte die klare Ablehnung des „Dritten Reiches“ durch die Mehrheit der Deutschen immer stärker zu einem Kernelement der politischen Kultur in der Bundesrepublik. Allmählich besserte sich das Bild der meisten Deutschen von Widerstandskämpfern und Emigranten, wie Repräsentativumfragen zeigen. Hitler und der Nationalsozialismus verloren mit der Zeit dagegen an demoskopischem Rückhalt in der Bevölkerung. Einen frühen Beitrag zur Aufklärung hatten die Nürnberger Prozesse geleistet, in denen die Alliierten einige Haupttäter verurteilt und Todesstrafen exekutiert hatten. Später folgten unter anderem der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958, der zur Gründung der „zentralen Erfassungsstelle für NS-Verbrechen in Ludwigsburg“ durch die Landesjustizminister führte, und der Frankfurter Auschwitz-Prozess ab 1963, den der hessische Generalstaatsanwalt und Sozialdemokrat Fritz Bauer maßgeblich initiiert hatte.

Mancher Haupttäter, zum Beispiel der trickreiche Albert Speer, zeitweise faktisch der zweite Mann im „Dritten Reich“, erhielten im Nürnberger Prozess nur eine geringe Strafe und konnten den eigenen Kopf aus der Schlinge ziehen. Magnus Brechtken zertrümmert in seinem Werk viele Lügengebäude des NS-Architekten Speer, der nach dem Krieg in erheblichen Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft als „nobler Nazi“ galt. Welche bedeutende Rolle Speer nach seiner Haftentlassung 1966 in der bundesdeutschen Gesellschaft spielte, lässt eine Anekdote aus der Autobiographie Marcel Reich-Ranickis erahnen. So erhielten der jüdische Literaturkritiker und seine Frau Mitte der 70er Jahre eine Einladung zu einem Empfang eines renommierten Verlages. Als das Paar auf der Veranstaltung eintraf, bemerkte es eine neugierige Menschentraube um einen Gast, den damaligen Bestseller-Autor Albert Speer., was dem Paar natürlich fast den Atem verschlug.

Antidemokraten kontinuierlich und konsequent bekämpfen

Darüber hinaus befassten sich Geschichts- und Politikwissenschaft und die politische Bildung frühzeitig mit der Hitler-Diktatur und ihren Massenverbrechen. Hinzu kamen zahlreiche Straßen und Plätze, die den Namen von Protagonisten des rechtsstaatlich orientierten Widerstandes gegen Hitler trugen. Die starke, abstrakte Ablehnung Hitlers in der Öffentlichkeit begleitete damals freilich eine zunächst oft eher schwache Neigung, konkrete Fragen nach persönlicher Mitverantwortung oder Schuld aufzuwerfen.

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Bis heute beunruhigen und erschüttern immer wieder Rassismus und Rechtsextremismus die Bundesrepublik. So ermordete ein Rechtsextremist im Juni 2019 den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Ebenfalls rechtsextremistisch motiviert war der versuchte Anschlag im Oktober 2019 auf die Synagoge in Halle an der Saale. Der Täter wollte zahlreiche Menschen offenbar töten, weil sie Juden sind. Doch eine verschlossene Eichentür versperrte ihm den Weg. Daraufhin erschoss er vor der Synagoge zwei Passanten. Wenige Monate später, im Februar 2020, erschoss ein Rechtsextremist in Hanau neun Frauen und Männer mit Migrationshintergrund. Insgesamt ermordeten Rechtsextremisten, darunter der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU), in Deutschland seit 1990 über 100 Menschen. Umso wichtiger bleibt es, Antidemokraten kontinuierlich und konsequent zu bekämpfen gemäß der Devise: Hinsehen und Handeln statt Wegsehen und Warten; mit Worten und Wahlzetteln, notfalls mit Gesetz und Gefängnis.

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