Ein junger Influencer der Generation Z beklagt öffentlich, dass sein Arbeitstag im Rahmen einer regulären Arbeitswoche mit 38,5 Stunden ihn überfordere. Seine Aussage löste heftige Reaktionen aus – zwischen Empörung und Verständnis. Doch die Debatte offenbart ein tieferes Problem unserer Gesellschaft: Wir haben verlernt, über die Bedeutung von Arbeit für die menschliche Würde zu sprechen.
Die katholische Soziallehre betont seit jeher: Arbeit ist nicht nur Broterwerb, sondern konstitutiv für menschliche Identität. Durch Arbeit gestalten wir die Welt, verwirklichen unsere Fähigkeiten und tragen zur Gemeinschaft bei. Arbeit ermöglicht Selbstwirksamkeit, schafft Struktur und stiftet Sinn. Sie ist Ausdruck menschlicher Kreativität und Teilhabe am Schöpfungsauftrag.
Doch diese Wahrheit auszusprechen, ist heute kompliziert. Die perverse Instrumentalisierung des Satzes „Arbeit macht frei“ über den Toren der nationalsozialistischen Vernichtungslager hat den Begriff der Arbeit nachhaltig vergiftet. Die Nazis missbrauchten Arbeit als Mordwerkzeug, als Demütigung, als Vernichtungsinstrument. Diese historische Last macht es schwer, heute unbefangen über den emanzipatorischen Charakter von Arbeit zu sprechen.
Nicht die Arbeit ist das Problem, sondern ihre Ausgestaltung
Dennoch müssen wir diese Diskussion führen. Denn eine Gesellschaft, in der Arbeit zunehmend als Zumutung gilt, während das arbeitslose Einkommen aus Kapital und Vermögen glorifiziert wird, verliert ihre ethische Orientierung. Nicht die Arbeit an sich ist das Problem, sondern ihre Ausgestaltung: prekäre Beschäftigung, mangelnde Wertschätzung, ungerechte Entlohnung.
Die Politik steht vor einer zentralen Aufgabe: Arbeit muss sich wieder lohnen – materiell und ideell. Das bedeutet faire Löhne, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und gesellschaftliche Anerkennung für jede ehrliche Tätigkeit. Gleichzeitig muss verhindert werden, dass leistungsloses Einkommen attraktiver wird als ehrliche Arbeit.
Der junge Influencer hat ungewollt eine wesentliche Frage aufgeworfen: Was ist uns Arbeit wert? Die Antwort kann sicherlich nicht darin bestehen, Arbeit generell abzuwerten. Sie muss vielmehr lauten: Wir brauchen Arbeit, die Menschen würdigt statt ausbeutet, die Leben ermöglicht statt verhindert, die Gemeinschaft stärkt statt spaltet.
Arbeit fördert menschliche Würde und entwickelt echte Freiheit – Freiheit zur Selbstverwirklichung, zur gesellschaftlichen Teilhabe, zur kreativen Gestaltung der eigenen Lebensgeschichte. Das arbeitslose Dasein hingegen bewirkt meist nur eines: nicht die Würde, sondern die Gier nach mehr, ohne selbst etwas dazu beitragen zu müssen.
Unsere Aufgabe ist es heute mehr denn je, Arbeit so zu gestalten, dass sie wieder als das erscheint, was sie sein sollte: ein Weg zu Würde, Sinn und Freiheit. Das ist keine Überforderung, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit.
Der Autor lehrt Wirtschaftsethik an der Universität Augsburg und ist Hauptgeschäftsführer des Osteuropa-Hilfswerks Renovabis.
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