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Wismar: Wahre Zeichen aus der Vergangenheit

Drei kolossale Bauwerke des Glaubens sind Wismar trotz Weltkrieg und DDR als Statthalter einer längst verwehten Geschichte geblieben.
Alter Hafen, Ohlerich-Speicher
Foto: Bildbaendiger / Thomas Schneider | Achtzig Meter hoch ragt der Sankt-Marien-Turm aus dem Stadtpanorama Wismars heraus und dominiert den Alten Hafen.

Im Herzen der alten Hansestadt ruft der Glaube mit architektonischen Mitteln „Ätsch!“. Unübersehbare 80 Meter ist der St.-Marien-Turm dort gen Himmel gewachsen. Ein stolzes Ausrufungszeichen aus rostrotem Backstein, das sich aus dem Zentrum des Ostseestädtchens erhebt und einfahrenden Schiffen weit über die Wismarer Bucht hinaus Willkommensgrüße schickt. Aus der Distanz nicht zu erkennen ist allerdings seine traurige Versehrtheit – dem Turm fehlt die Kirche. Das im 13. Jahrhundert erbaute Gotteshaus wurde 1945 durch Luftangriffe stark beschädigt. Alle Gewölbe, große Teile der Vorhallen und das südliche Seitenschiff stürzten ein.

Der Hauptaltar von 1749, das Gestühl und der Orgelprospekt – alles zerstört, doch die gewaltigen Mauern hielten zu großen Teilen stand. Ein Wiederaufbau wäre möglich gewesen, um zu bewahren, was im Lexikon der Architekturgeschichte als bedeutsame norddeutsche Backsteingotik bezeichnet wird. Entsprechende Pläne wurden von der Wismarer Stadtverwaltung jedoch abgelehnt. Hauptgrund dafür dürfte neben fehlenden finanziellen Mitteln und einer grundsätzlich geringen Wertschätzung alter Bausubstanz wohl die kirchenfeindliche Haltung der herrschenden SED gewesen sein. Keine Kirche, sondern ein sozialistischer Kulturpalast sollte nach dem Willen der Partei zukünftig die Silhouette der Stadt dominieren. Deshalb ließ man Chor und Langhaus 1960 sprengen.

Triumph über den Kommunismus

Einzig der Turm musste wegen seiner Bedeutung als Seezeichen erhalten werden. „Ätsch!“ Seine Standfestigkeit war ein Triumph der Kirche über Krieg und Kommunismus. Die Dienstfähigkeit des Marienturms blieb zudem nicht auf ein Dasein als Navigationshilfe beschränkt, denn gerettet wurden auch seine 13 Glocken, von denen die älteste bereits vor 600 Jahren über Wismar läutete. Mit fünf Tonnen Gewicht und einem Durchmesser von zwei Metern gilt die größte Glocke mit ihrem fulminanten Klang voller Kraft und Fülle als Meisterwerk des Lübecker Gießers Harmen Pasmann. Nach vielen Jahrzehnten des Schweigens erweckte eine Instandsetzung des Turms Anfang der 1980er-Jahre auch seine Glocken wieder zum Leben. So erhielt St. Marien ihre Stimme zurück, in der auch die Erinnerungen vieler Generationen von Gläubigen wiederhallen.

Der sozialistische Kulturbau, der die Kirche ersetzen sollte, wurde nie verwirklicht, die leere Fläche vor dem Turm stattdessen als Parkplatz genutzt. Heute zeichnen niedrige Mauern den Grundriss des einstigen Kirchenschiffs nach und machen so die Größe St. Mariens sichtbar. Auch die erhaltenen Fundamente wurden wieder freigelegt, und sockelhohe Säulenfüße markieren nun die Stellen, an denen früher mächtige Pfeiler in die Höhe strebten. Die Idee einer vollständigen Rekonstruktion der Kirche wurde 2017 endgültig aufgegeben.

Im Krieg beschädigt

In unmittelbarer Nachbarschaft konnte wenige Jahre zuvor jedoch die Wiedergewinnung eines besonderen Gotteshauses gefeiert werden. Auch die Georgenkirche war im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt und in der DDR dem weiteren Verfall preisgegeben worden. Den fensterlosen Mauern wuchs ein Fell aus Brennnesseln und Moos, in den Nischen nisteten Tauben und die Gewölbe bröckelten vor sich hin. Dass nach zwei Jahrzehnten Bauzeit der 43 Millionen Euro teure Wiederaufbau der Basilika 2010 vollendet werden konnte, wird zu Recht als das „Wunder von Wismar“ gepriesen.

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Neben Gottesdiensten finden hier auch Theater- und Konzertveranstaltungen statt, für die dann eigens Sitzgelegenheiten aufgestellt werden. Sonst vollkommen leer und frei von allem, was ihn mit moderner Gegenwart infizieren würde, geht von diesem Raum eine spirituelle Kraft aus, der man sich nicht entziehen kann. Selbst an nebelgrauen Tagen fließt Licht durch die bleiverglasten Fenster und lässt die Backsteinmauern lodern. Die Welt draußen ist völlig ausgeschaltet. Klein und demütig stehen die Menschen neben mächtigen Achteckpfeilern, legen die Köpfe in den Nacken und spazieren mit den Augen das Kreuzrippengewölbe entlang. Kaum etwas kann ihre Blicke lange bannen, denn Wände, Decken und Säulen sind nackt. Von der ursprünglichen Kirchenausstattung blieben einzig Fragmente mittelalterlicher Fresken erhalten, von denen nur noch eine schemenhafte Idee zurückgeblieben ist, ganz so als hätten sich die Protagonisten der alttestamentarischen Bildergeschichte langsam in das Reich des Unsichtbaren zurückgezogen.

Kunstgegenstände gerettet

Vor dem Verschwinden gerettet wurden hingegen einige besonders wertvolle Kunstgegenstände aus St. Georgen und St. Marien, wie das bronzene Taufbecken und einer der größten Altaraufsätze im ganzen Ostseeraum. Ihren neuen Platz haben sie in St. Nikolai, der Dritten im Bunde der großen Wismarer Backsteinkirchen gefunden. Sie allein hat den Krieg weitgehend unbeschadet überstanden. Ihr Ruf, nach Lübecks Marienkirche der zweithöchste Sakralbau der Backsteingotik in Deutschland zu sein, lockt manchen Besucher nach oben. Sie dürfen der Kirche dann aber doch nicht auf, sondern nur unter das Dach steigen. Auch gut, denn 95 mäßig schweißtreibende Wendeltreppenstufen später führt ein Brettersteg über das südliche Kirchenschiff und gewährt sowohl Einblicke in den Aufbau des mittelalterlichen Dachstuhls als auch Ausblicke auf Wismars Hafen und Altstadt. Schwindelfreie spähen durch bautechnisch bedingte Öffnungen in der Kuppel in den Kirchraum hinunter, während Statikern und Denkmalpflegern das Herz aufgeht beim Blick auf Kreuz- und Tonnengewölbe, auf Formsteine und einen der original erhaltenen gotischen Dachstühle aus altem Eichenholz.

Eine Verschonte, eine Auferstandene und ein Übriggebliebener – St. Nikolai, St. Georgen und St. Mariens Turm sind Wismars Gedächtnis, eine in Abermillionen Backsteine gefasste Geschichte. Dass keine gläsernen Bankenhochhäuser und modernen Wohnsilos die Skyline der Stadt prägen, sondern gotische Gotteshäuser, war einer der Gründe, warum Wismar zum Weltkulturerbe der UNESCO ernannt wurde. Auch eine Auszeichnung für alle, die sich für den Erhalt, die Rekonstruktion und Pflege der Kirchen eingesetzt, die gegen Widerstände gekämpft und sich für ihren Glauben stark gemacht haben.

Ein wunderbares Symbol für dieses gemeinsame Ringen um die besten Lösungen steht ausgerechnet auf dem leeren Kirchhof von St. Marien – die Plastik des in Wismar geborenen Karl-Henning Seemann mit dem Titel „Die Tauzieher“. Sie zeigt vier Männer, die an einem Strang ziehen, drei in die eine, ein einzelner in die andere Richtung. „Wenn einer loslässt“, kommentierte der Bildhauer sein eigenes Werk, „dann fallen die anderen auf die Nase.“ Ätsch!

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