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Buenos Aires vergisst nicht

Mehr als Tango und Fußball: Wer sich für die argentinische Geschichte interessiert, sollte in Buenos Aires diese Erinnerungsorte besuchen.
Pfarrei Santa Cruz
Foto: IMAGO/Markus Matzel (www.imago-images.de) | Hier ist die Zeit der Diktatur unvergessen: Die Kirche Santa Cruz, einer der wichtigsten Erinnerungsorte in Buenos Aires.

Buenos Aires ist weit mehr als Fußballfolklore, Evita und grandiose Hausfassaden … Argentiniens Metropole pflegt eine eindrucksvolle Erinnerungskultur an fast allen Ecken und Enden der Stadt. Den Autor dieses Beitrages haben zwei Orte in Buenos Aires besonders bewegt, die in die jüngste argentinische Geschichte weisen und Probleme sichtbar machen, welche das Land bis heute aufwühlen.

Das katholische Gotteshaus Santa Cruz in einem unspektakulären innerstädtischen Wohnviertel liegt idyllisch da. Palmen umgeben die neugotische Kirche, der von Grün umwachsene Eingang zum Gemeindehaus ist zwar verschlossen, wirkt aber dennoch einladend und öffnet sich gleich nach dem Klingeln. Kaum zu glauben, dass dieser friedliche Ort rund 46 Jahre zuvor Schauplatz eines abscheulichen Verrates war. Rosana Disanzo, eine junge Mitarbeiterin der Kirchengemeinde, erzählt die Geschichte, die sich in der Zeit der letzten Militärdiktatur zugetragen hat. Die von 1976 bis 1983 herrschende Junta hinterließ tiefe Traumata im Land. Etwa 30.000 Oppositionelle verschwanden in jener Zeit spurlos. Folter und Mord gehörten jahrelang zum Alltagsgeschäft des Geheimdienstes. Die römisch-katholische Kirche unterstützte aus Furcht vor dem Kommunismus in vielen Fällen die Politik der Junta oder stellte sich wenigstens nicht entschieden gegen sie.

Kirchlicher Widerstand war selten, aber dennoch gab es ihn: In der Kirche Santa Cruz trafen sich regelmäßig Menschen, die Angehörige vermissten, wie Disanzo erläutert. Zudem pflegte die Gemeinde enge Verbindungen zu den Müttern, die damals jeden Donnerstag auf der Plaza de Mayo im Herzen von Buenos Aires für Aufklärung über den Verbleib ihrer Kinder demonstrierten; die Gründerinnen der Bewegung „Madres de Plaza de Mayo“ nahmen regelmäßig an den Treffen im Gemeindezentrum teil.

Ein abscheulicher Verrat

1977 stieß ein junger Mann mit angenehmem Äußeren und blondem Haar namens Gustavo Niño zu der Gemeinschaft, der angab, er wolle etwas über seinen verschollenen Bruder erfahren. Kurz bevor die Widerstandsgruppe eine Liste von Namen Verschwundener in einer Zeitung veröffentlichen und damit die Regierung nachdrücklich zur Aufklärung auffordern wollte, trat sie am 8. Dezember 1977 im Gemeindehaus der Kirche Santa Cruz zusammen. Ihr Versammlungsraum, ein einfach ausgestattetes Zimmer mit einem langen Tisch samt Stühlen darum herum, heißt heute „Salón de la Memoria“.

Nach der Eucharistiefeier der Gemeinde an jenem Feiertag Mariä Empfängnis gab Gustavo Niño den anderen Mitgliedern den Kuss des Friedens. Noch ahnte niemand von ihnen, dass der „blonde Engel“ Geheimdienstoffizier war, in Wirklichkeit Alfredo Astiz hieß und in der Manier des Judas seine vermeintlichen Mitstreiter der Junta auslieferte. Unmittelbar danach drang der Geheimdienst in das Gotteshaus ein, überfiel die zwölf Geküssten und verschleppte sie in das Folterzentrum ESMA, heute ein Museum, das zum Weltkulturerbe der UNESCO zählt. Dort wurden sie schwer misshandelt, ehe man sie bei offenbar noch lebendigem Leibe aus dem Flugzeug ins Meer warf: zwei französische Nonnen, drei Madres von der Plaza de Mayo und sieben weitere Personen, die die Sorge um ihre Angehörigen umgetrieben hatte. Knapp zwei Wochen später wurden einige der Leichen hunderte Kilometer südlich von Buenos Aires an die Küste gespült. Auf den zwölf Gräbern vor der Kirche ist das Datum 8. Dezember 1977 angegeben.

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Disanzo führt den Autor durch die Kirche, in der großformatige Bilder der Opfer mit Erläuterungen hängen. „Unsere Aufgabe ist es, hier zu sein und an die damaligen Ereignisse zu erinnern. Seit 40 Jahren herrscht in Argentinien die Freiheit der Demokratie. Wir wollen, dass vor allem junge Menschen erkennen, wie wichtig sie ist.“ Eine bedeutende Rolle schreibt Disanzo auch dem argentinischen Papst Franziskus zu: Er habe als Priester unter der Militärdiktatur Familien von Verschwundenen geholfen und erneuere als Kirchenoberhaupt und Jesuit die Botschaft eines menschlichen Jesus.

Ein bedrückend aktueller Terrorakt

Zwischen den Gleisen und Strebepfeilern des U-Bahnhofs Pasteur-Amia zieht eine Uhr die Blicke der Wartenden auf sich. Sie steht dauerhaft auf 9:53 Uhr und zeigt darüber das Datum 18. Juli 1994 an. In jenem Moment vor knapp 30 Jahren erlebte Argentinien den verheerendsten Bombenanschlag seiner Geschichte. Ziel war das jüdische Gemeindezentrum Asociación Mutual Israelita Argentina, kurz AMIA, in unmittelbarer Nähe des U-Bahnhofs. Das Attentat kostete 85 Menschen das Leben, hinzu kamen über 300 Verletzte, und zerstörte das mehrstöckige Gebäude völlig. Bereits gut zwei Jahre zuvor, am 17. März 1992, war auf die israelische Botschaft in Buenos Aires ein Selbstmordanschlag mit 29 Toten und 242 Verletzten verübt worden. Die mutmaßlichen Hintergründe dieser Terrorakte wirken bedrückend aktuell: Die libanesische Hisbollah soll auf diese Weise Rache für die Tötung eines ihrer führenden Köpfe durch die israelische Armee genommen haben, das israelische Außenministerium sieht dahinter den Iran als Urheber beider Anschläge. Die Attentäter und ihre Auftraggeber hatten sich demnach das Land mit der größten jüdischen Bevölkerungsgruppe in Lateinamerika für ihren Mordplan ausgesucht. Jedoch gelten beide Anschläge bis heute als nicht aufgeklärt.

Während am wiederaufgebauten Botschaftsgebäude und dem jüdischen Zentrum eine würdevolle Erinnerungskultur im klassischen Stil gepflegt wird – vor der Botschaft ein Garten mit Bäumen, im Falle von AMIA eine Tafel mit den Vornamen der Getöteten –, haben Kunstschaffende den U-Bahnhof zu einem außergewöhnlichen Fanal gegen das Versagen der argentinischen Justiz ausgestaltet. Denn es gelang ihr in drei Jahrzehnten nicht, die Täter dingfest zu machen und zu bestrafen. Zwei Präsidenten des Landes gerieten gar in den Verdacht, aus unterschiedlichen Gründen die Ermittlungen aktiv zu behindern, Carlos Menem in den 90er-Jahren und Cristina Fernández de Kirchner, die zwischen 2007 und 2015 amtierte. Dramatisch ist, dass der für die Aufklärung des Falls eingesetzte Sonderermittler 2015 erschossen aufgefunden wurde, kurz bevor er seinen Bericht im Parlament vortragen konnte. Für einen Mord ließen sich keine klaren Beweise finden. Die beiden ehemaligen Staatschefs und etliche Mitangeklagte wurden vor Gericht vom Verschleierungsvorwurf freigesprochen, nicht allerdings Angehörige der Justiz und des Geheimdienstes.

Graffiti gegen das Vergessen

Die Bahnsteige des U-Bahnhofs sind auf ganzer Länge von insgesamt 26 großformatigen, meist farbigen Karikaturen von 25 Künstlerinnen und Künstlern gesäumt, die bisweilen nachdenklich machen, mitunter aber auch mit einem sehr bissigen Humor aufrütteln wollen – ganz im Sinne einer der Karikaturen, auf der eine schrill aufgemachte Frau mit dem Banner „Humor“ eine wütende Bestie, die wiederum für „Barbarei“, „Terror“ und „Unmenschlichkeit“ steht, mit einem Spray in der Nase reizt. Etliche Darstellungen beschäftigen sich mit der Gestalt der Justitia. Einmal wird sie weinend mit verbundenen Augen in einem Labyrinth von einer Schildkröte geführt, während am Eingang Blumen die Opfer des Anschlags ehren. Ein anderes Mal liegt sie bei einem Psychoanalytiker namens „Historia“ auf der Couch und spricht erregt über ihr verdrängtes Trauma des Bombenanschlags, das die gerade eben erfolgte Explosion einer Mauer in der rechten oberen Bildecke sowie Munchs Gemälde „Der Schrei“ über ihr symbolisieren. Eine weitere Abbildung geht sogar so weit, Gott selbst in den Mund zu legen, er sei für die Erschaffung des Menschen nicht verantwortlich: „Den Himmel, die Erde, die Tiere, die Pflanzen, ja. Aber damit habe ich nichts zu tun.“ Die Kunstwerke sind ein leidenschaftlicher Appell, die Erinnerung an das Geschehene zu wahren und die Attentäter zur Rechenschaft zu ziehen.

Beide Erinnerungsorte machen schwere Fehlentwicklungen in der jüngsten Vergangenheit Argentiniens transparent. Ihr Besuch ist schmerzhaft, aber in ihnen lässt sich auch das Streben nach Wahrheit erkennen, das die Vertuschung von Verbrechen und Versagen nicht duldet. Die Kirche Santa Cruz ist ein Ort der Mahnung vor einer menschenverachtenden Diktatur und der Erinnerung an zwölf ihrer Opfer, die zugleich für sehr viele andere stehen. Die Karikaturen im U-Bahnhof Pasteur-Amia dagegen klagen die in Korruption verstrickte und untätige Justiz des gegenwärtigen Staates an. Hohe Repräsentanten dieses Staates wären damit an ihrer wesentlichen Aufgabe, nach demokratischen Werten zu handeln, eklatant gescheitert. Zwar hat die Regierung des neuen argentinischen Präsidenten Javier Milei der Korruption den Kampf angesagt, aber der Demokratie scheint die angekündigte Radikalkur auch nicht zu dienen: Die neue Vizepräsidentin Victoria Villarruel bagatellisiert die Verbrechen der Militärdiktatur ganz offen. Wie sich diese Haltung auf die Erinnerungskultur auswirken wird, bleibt abzuwarten.

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