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Von Kentler zur Sexualpädagogik der Vielfalt

Ein Dokumentarfilm der „Demo für alle“ zeichnet den direkten Weg von Kentlers Theorien über Sexualaufklärung bis hin zur heute fast allgegenwärtigen Sexualpädagogik der Vielfalt nach.
Kentler
Foto: Demo für alle | Es ist in der Sexualpädagogik nie zu einer ernstzunehmenden kritischen Auseinandersetzung mit Kentlers Theorien gekommen, erklärt Hedwig von Beverfoerde in der Dokumentation.

Jahrzehntelang gaben Berliner Jugendämter Kinder und Jugendliche in die „Obhut“ pädophiler Männer, die sie vergewaltigten und missbrauchten – mit finanzieller Unterstützung des Berliner Senats. Verantwortlich für dieses Experiment zur „Resozialisierung auffälliger Jugendlicher“ war der Sexualpädagoge Helmut Kentler, der 2008 gestorben ist. Ein am Donnerstag veröffentlichter Dokumentarfilm der „Demo für alle“ zeichnet den direkten Weg von Kentlers Theorien über Sexualaufklärung bis hin zur heute fast allgegenwärtigen Sexualpädagogik der Vielfalt nach.

Karla Etschenberg, Pädagogin und emeritierte Professorin für Didaktik mit Schwerpunkt Sexualerziehung, spricht in dem 45-minütigen Film über Kentlers Theorien. Sie sieht in ihm einen Überzeugungstäter, der – trotz des Fehlens einer entsprechenden empirischen Basis – davon ausging, dass sexuelle Kontakte mit Erwachsenen gut für die Entwicklung der Jungen selbst sei. „Missbrauch liegt nur vor, wenn es nachweislich den Kindern geschadet hat“, sei Kentler überzeugt gewesen.

68er wollten "neuen Menschen" erziehen

Bettina Röhl, Tochter der RAF-Terroristin Ulrike Meinhoff, erzählt über die Zeit der Kommunen und Kinderläden, die sie selbst als Kind miterlebte. Die 68er-Bewegung habe den „neuen Menschen“ erziehen wollen, nicht nur im politischen, sondern auch im sexuellen Sinne. Da habe es auch ganz klare Anweisungen gegeben: „Die Kinder sollten nicht nur zugucken beim elterlichen Geschlechtsverkehr, sondern auch mitmachen.“ Die „Ideologie der Zerstörung der Schamgrenzen“ sei der Glaube gewesen, „der Mensch, der keinen autoritären Strukturen und Schamgrenzen unterliegt, ist der befreite Mensch, der bessere Mensch“. Auf dem Höhepunkt dieser Bewegung sei Kentler auf den Gedanken gekommen, schwierige Kinder bei Pädosexuellen unterzubringen, so die Publizistin.

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Die zentrale These Kentlers lautete: Kinder sind sexuelle Wesen mit sexuellen Bedürfnissen. „Sexualität kann nur erzogen werden, wenn etwas Sexuelles passiert“, zitiert Etschenberg aus Kentlers Buch „Eltern lernen Sexualerziehung“ von 1975. Kentler habe empfohlen, Kinder als Sexualwesen aktiv zu stimulieren, damit sie ein positives Verhältnis zu ihrem Körper und den sexuellen Funktionen bekommen, so die emeritierte Professorin. „Das setzt sich fort in den Übungen, die von der sexuellen Bildung für Kita und Schule empfohlen werden“, zeigt sie sich beunruhigt. 
Auch die bekannte Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Christa Meves kommt in der Dokumentation zu Wort. Sie gehört zu den wenigen, die Helmut Kentler bereits seit den 70er Jahren öffentlich kritisiert. Es habe damals als die neue Zeit gegolten, dass Kinder von Eltern zur Selbstbefriedigung angeleitet würden. „Das gehörte gewissermaßen zu den ersten entscheidenden pädagogischen Maßnahmen in Bezug auf das Säuglingsalter“, so die heute 97-Jährige. 

Keine echte kritische Auseinandersetzung mit Kentlers Theorien

Es ist in der Sexualpädagogik nie zu einer ernstzunehmenden kritischen Auseinandersetzung mit Kentlers Theorien gekommen, erklärt Hedwig von Beverfoerde. „Der Meisterschüler von Helmut Kentler ist Uwe Sielert, der wiederum der Begründer der Sexualpädagogik der Vielfalt ist und diese Pädagogik quasi überall flächendeckend implementiert hat“, so die „Demo für alle“-Vorsitzende.


Auch der Sexualwissenschaftler Jakob Pastötter bestätigt, dass die Kernthese der Sexualpädagogik Sielerts dieselbe wie die Kentlers ist, „dass Menschen sexuelle Wesen von Kindheit an sind und nicht nur das, sondern dass sie auch die gezielte Förderung von Erwachsenen brauchen, um diese Sexualität für sich zu entdecken“. Mit seinem Lehrbuch für Studenten sei Uwe Sielert zur zentralen Figur der Sexualpädagogik in Deutschland geworden, erklärt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung.

Zwei Betroffene gehen 2017 an die Öffentlichkeit

2017 gingen zwei Betroffene, die Opfer des Kentler-Experiments geworden sind, an die Öffentlichkeit. Einer der beiden war erst sechs Jahre alt, als er bei einem pädophilen Mann untergebracht wurde. Beide sind in ihrer Kindheit und Jugend unzählige Male von ihrem „Ziehvater“ vergewaltigt worden. Ihr Zeugnis zeigt, dass Betroffene auch von den Jugendämtern alleingelassen wurden, wenn sie sich mit der Bitte um Hilfe an sie wandten. Ein normales Leben zu führen ist für beide bis heute unmöglich.

Trotz der wissenschaftlichen Aufarbeitung lässt eine vollständige Aufarbeitung des Kentler-Experiments inklusive der möglicherweise bis heute bestehenden Pädophilennetzwerke auf sich warten. Marcel Luthe musste als ehemaliges Mitglied des Abgeordnetenhauses Berlin feststellen, dass der Wille zur Aufklärung im Berliner Senat fehlt. Es müsse sichergestellt werden, dass sich so etwas nicht wiederholen könne, doch „davon sind wir ganz weit weg“, meint der Politiker und Buchautor in der Dokumentation. DT/fha

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