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Studie zum sexuellen Kindesmissbrauch im Sport veröffentlicht

Sexueller Missbrauch im Sport. Studie der Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs wurde veröffentlicht. Betroffene brechen ihr Schweigen.
Vorstellung Studie über sexualisierte Gewalt im Sport
Foto: Wolfgang Kumm (dpa) | Heiner Keupp, Mitglied der Aufarbeitungskommission, und Bettina Rulofs, leitende Autorin der Studie, bei der Vorstellung der Studie "Sexualisierte Gewalt und sexueller Kindesmissbrauch im Kontext des Sports".

Am Dienstag hat die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs eine Studie zu sexueller Gewalt und Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Sport veröffentlicht. Besonders der Leistungssport und der wettkampforientierte Breitensport stehen im Fokus der Untersuchung, bei der 72 Berichte von Betroffenen sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ausgewertet wurden. 

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Über langen Zeitraum

Prof. Dr. Bettina Rulofs, die leitende Autorin der Studie, sagte: „Es geht in den meisten Berichten um schwere körperliche sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen von Erwachsenen gegen Kinder und Jugendliche im Sport unter Ausnutzung eines Betreuungs- oder Abhängigkeitsverhältnisses". Die Sportsoziologin bezeichnete die Schilderungen als erschütternd. Die Missbrauchsfälle beträfen unterschiedliche Sportarten wie Turnen und Fußball, Judo, Reiten, Rudern, Handball oder Schwimmen. Daher handele es sich nicht um Einzelfälle in bestimmten Sportarten, so Rulofs.

Die Studie zeigt, dass zwei Drittel der Betroffenen sexueller Gewalt nicht nur einmal, sondern regelmäßig und zum Teil über einen langen Zeitraum ausgesetzt waren. Als Täter wurden meist männliche Trainer, Betreuer oder Lehrer vorwiegend aus dem direkten oder nahen Umfeld benannt. Etwa ein Fünftel der ausgewerteten Berichte betrifft sexuellen Kindesmissbrauch im Rahmen des Sports in der DDR. Eine Besonderheit stellt hier die sehr frühe Talentsichtung, Auswahl und Förderung sportlich begabter Kinder dar.

Schwer Hilfe zu erhalten

Aufgedeckt und aufgearbeitet wurden die wenigsten Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs, so die Studie. Stattdessen erlebten Betroffene häufig, dass ihre Erfahrungen negiert, bagatellisiert und verschleiert wurden. Dies kritisierte Prof. Dr. Heiner Keupp, Mitglied der Aufarbeitungskommission mit den Worten: „Sportorganisationen müssen ein Interesse daran haben, zu erfahren, was in ihrer Einrichtung in der Vergangenheit geschehen ist, auch um Kinder und Jugendliche besser schützen zu können.“ Er forderte ein „gesetzlich verankertes Recht von Betroffenen auf Aufarbeitung, das gleichzeitig Institutionen dazu verpflichtet.“

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Hemmend für die Aufdeckung sexualisierter Gewalt wirken verschiedene Faktoren. Dazu zählt die Studie die überragende Bedeutung des sportlichen Erfolgs, die Abhängigkeit von ehrenamtlichen Mitarbeitern und Sponsoren, ein Machtgefälle zwischen Sportlerinnen und Sportlern und den Trainern sowie vor allem das hohe gesellschaftliche Ansehen des Sports. „Gerade die positive Erzählung des Sports macht es Betroffenen schwer, für ihr im Sport erfahrenes Unrecht und Leid Aufmerksamkeit und Hilfe zu erhalten“, verdeutlichte Prof. Dr. Bettina Rulofs.

Ehrliche Aufarbeitung

Die Autoren der Studie sehen daher unabhängige Anlaufstellen für Betroffenen als notwendig an. Angela Marquardt, Mitglied des Betroffenenrats bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) sieht das genauso: „Betroffene, die das Schweigen brechen, haben die Grundlage für die vorliegende Studie gelegt. Zu oft behindern Vereine und Verbände bisher eine schonungslose Aufarbeitung von Fällen sexueller Gewalt. Ehrliche Aufarbeitung jedoch ist die Voraussetzung für einen grundsätzlichen Wandel im Leistungs- und Breitensport. Der organisierte Sport ist dies den Betroffenen schuldig“.

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs untersucht seit 2016 Ausmaß, Art und Folgen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Die aktuelle Studie ist die erste wissenschaftliche Auswertung in dieser Größenordnung für den Bereich des Sports. Die Studie steht hier zum Download bereit. DT/chu

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