Das erfolgreiche Münchner Start-up „Table Desires“, was so viel bedeutet wie „Tisch-Sehnsüchte“, wirkt nur auf den ersten Blick „stylish“ und „hip“. Zwar wollen die jungen Mütter Tini Schramm und Gloria Epstein mit ihrem Geschäftsmodell dazu einladen, gemeinsam schöne Erinnerungen an festlicher Tafel zu schaffen. Doch ihre Tischdekorationen, die vor allem zu Weihnachten und Ostern eine besondere Atmosphäre erzeugen sollen, gehen zurück auf uralte Traditionen.
Denn was hier in dekorativem Überschwang für das Zeitgeist-Publikum zelebriert wird, begann in den Kulturen der Völker vor Tausenden von Jahren. Der Tisch wuchs gleichsam aus dem Zeltboden und Höhlengrund empor zu seiner bekannten Gestalt mit ihren unzähligen Variationen. Es gibt kaum einen kulturellen Ort, der in der jüdisch-christlichen Überlieferung so aufgeladen ist wie der Tisch. Er ist nicht bloß Möbelstück, nicht bloß zufälliger Schauplatz der Ernährung, sondern ein konstitutiver Raum für Versöhnung, Begegnung und inneren wie äußeren Frieden. In einer Zeit gesellschaftlicher Spaltungen, politischer Polarisierungen und digitaler Begegnungen wirkt die Tradition der Mahlgemeinschaft fast wie ein Gegenentwurf: Sie erinnert daran, dass Frieden nicht zuerst in Verträgen, sondern beim gemeinsamen Essen beginnt.
Das Mahl ist immer konkret
Dieser Akt ist nicht virtuell, etwa in Online-Konferenzen, zu ersetzen, er bleibt dem konkreten Tun vorbehalten und ist an die körperliche Präsenz gebunden. Es scheint, als würden die „Tisch-Sehnsüchte“ in dem Maße wachsen, in dem die traditionellen Begegnungsformen, die sich am gemeinsamen Tisch ereigneten, im Hintergrund verblassen.
Der Weg der Menschen an den Tisch ist lang. Früh erscheint das gemeinsame Mahl als Ereignis, an dem der Mensch Gott begegnet und am Heilsgeschehen teilnimmt. Den Tisch, wie wir ihn heute kennen, gab es da noch nicht. Abraham empfängt in der Erzählung des Alten Testaments die drei Männer unter der Terebinthe von Mamre nicht mit einer Debatte, sondern mit einem Mahl – ein archetypisches Bild der Gastfreundschaft und der Gottesfreundschaft. Das Pessach-Mahl wiederum ist eine Erinnerung an die Befreiung Israels und eine erneute Vergewisserung: Hier wird Geschichte „essbar“ und dokumentiert im praktischen Vollzug, dass Freiheit immer gemeinsam errungen wird.
Damals saß man auf Matten, Fellen und Teppichen. Schalen, Platten und Körbchen enthielten nach überlieferten Befunden die Speisen. Das Essen am Boden war lange kulturelle Norm. Die jüdische Tradition hat mit der Sesshaftwerdung daraus eine Kultur der Tischgespräche entwickelt, die bis heute Familien und Gemeinden prägt. Der Sabbat beginnt nicht mit einem öffentlichen Ritus, sondern mit Kerzen, Brot, Wein – und mit dem gemeinsamen Sitzen am Tisch. Frieden, Schalom, meint im Hebräischen die Fülle des Lebens. Und diese Fülle bekommt eine häusliche, familiäre, eine physisch-konkrete Gestalt im Mahl.
Im Christentum, mit Anlehnungen an die römische Kultur, nimmt diese Symbolik eine radikale Wendung: Jesus selbst wählt das gemeinsame Essen als für jeden nachvollziehbare Form der Verkündigung. Er predigt nicht nur über das Reich Gottes; er formt es mehrfach nach. Seine Mahlgemeinschaften mit Zöllnern und Sündern, die Erzählung vom Gastmahl, das Gleichnis vom verlorenen Sohn, der in einem Festmahl seine Würde zurückerhält – all dies verdichtet sich im Abendmahl zu einer Theologie des Friedens: Gott stiftet nicht bloß Seelenfrieden, sondern baut eine Gemeinschaft auf, die sich am Brotbrechen formt.
Der Tisch als Ort der Gottesbegegnung
Der christliche Tisch ist der Ort, an dem soziale Grenzen fallen und der Mensch an Leib und Seele erneuert wird. Die Jünger erkennen Jesus an der Art des Brotbrechens wieder.
Diese Grundstruktur – Frieden durch gemeinsame Präsenz, durch das Teilen von Speise, durch das Sitzen nebeneinander und gegenüber – setzt sich erstaunlich stabil in der politischen Kultur des Westens fort. Dass bis heute nahezu jedes Staatsbankett, jede Gipfeldiplomatie und jeder Versuch, festgefahrene Konflikte aufzubrechen, von einer gemeinsamen Mahlzeit flankiert wird, ist kein Zufall. Menschen, die miteinander essen, finden zusammen, ob sie wollen oder nicht. Die Servierform „Family Style“, in der man sich Schüsseln und Platten anreicht, begleitet von einem Blick und einem Wort, schafft erste Begegnung. Am Tisch fällt es schwerer, bei seiner starren Rolle zu bleiben, die Maske muss zum Essen fallen. Man kann nicht gleichzeitig Brot teilen und im Tischnachbarn allein den Kontrahenten sehen. Beim Wiener Kongress, der 1815 eine neue europäische Ordnung schuf, spielten die berühmten Bankette eine kaum zu überschätzende Rolle.
Selbst im Kalten Krieg wurde der entscheidende Durchbruch oft bei informellen Tischgesprächen erzielt. Adenauer besuchte Moskau vom 8.–14. September 1955 auf Einladung der sowjetischen Führung. Ziel war die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der BRD und der UdSSR. Am vierten Tag kam es bei einem Staatsbankett zum Durchbruch. Als nach dem Mahl die Wodkaflaschen kreisten, erwies sich die deutsche Delegation als ausreichend trinkfest. Die „Drinking Diplomacy“ war international Teil der Außenpolitik. Gut 30 Jahre später: Die deutsche Wiedervereinigung ist ohne die Begegnungen von Kohl und Gorbatschow bei Tisch nicht denkbar.
Solche „Tischdiplomatie“ ist kein romantischer Nebeneffekt, sondern anthropologische Konstante: Der Tisch ist das Zeichen dafür, dass Politik letztlich von einzelnen Menschen gemacht wird, nicht von Systemen. Abseits des politischen Geschäfts auf großer Bühne bleibt auch im Privaten die Bedeutung der Tischgemeinschaft weitgehend konstant. Trotz Fastfood und Streetfood, trotz Kantine, Mensa und Supermarkt-Snack-Kultur: Die Sehnsucht nach dem gedeckten Tisch, nach ästhetisch gestalteten Mahlzeiten, nach festlicher Tischdeko, gemeinsamer Kulinarik und ritualisierten Abläufen ist enorm. Die Popularität von Kochabenden, langen Tafeln bei Hochzeiten, Firmenfeiern mit Büfetts oder gemeinschaftlichen Picknicks im Park ist Ausdruck einer zutiefst menschlichen Intuition: Gemeinschaft beginnt im Vollzug des Sichtbaren, als Erfahrung für alle Sinne. Der gedeckte Tisch ist nicht bloß Instagram-Ästhetik, sondern kulturelle Erinnerung – ein unbewusstes Echo aus gar nicht so grauer Vorzeit.
Lieferdienste sind kein Ersatz
Die Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, wie verletzlich unsere auf der Tischgemeinschaft basierenden Austauschrituale sind. Während der Pandemie wurde ausgerechnet das gemeinsame Essen zu einer problembehafteten Handlung. Viele Menschen spürten oft schmerzlich, was fehlt, wenn die Bank am Tisch leer und die Küche kalt bleiben muss. Zwar verzeichneten Lieferdienste und Take-away-Angebote einen kaum für möglich gehaltenen Boom, der bis heute weitgehend anhält. Doch der Rang einer Einladung zum Essen, einer Tischgesellschaft von Familie und Freunden, untermalt von Lachen und fröhlichem Kinderlärm, ist eher gestiegen.
Während also der Wert der Tischgemeinschaft kulturübergreifend eine Renaissance erlebt und eine Zeitung wie die New York Times über Abos von Rezepten für die Bewirtung von Familie und Freunden die höchsten Zuwachsraten bei der Online-Nutzung verzeichnet, so tut man sich andernorts umso schwerer, etwa in der Kirche. Dabei entfaltet doch die Tischgemeinschaft gerade in der katholischen Kirche im sakramentalen Gestus ihre größte Kraft. In jeder Eucharistiefeier wird erfahrbar, dass Frieden empfangen wird – als ein Geschenk, das sich im Teilen vermehrt. Die Kirche könnte neu entdecken, wie viel missionarisches und gesellschaftliches Potenzial darin steckt, Menschen an einen Tisch zu bringen. Nicht umsonst löst die Gestaltung der Mensa des Altars bei vielen Kirchenneubauten und Umbauten heftige Debatten aus. Beim Tisch wollen viele mitreden – und Platz nehmen.
Für die anthropologisch-religiöse Grunderfahrung der privaten Tischgemeinschaft ist indes nicht maßgeblich, dass sich die Tischdekoration jederzeit auf dem neuesten Stand bewegt. Wenn die Signale des gedeckten Tisches auf persönliche Art einladend und wertschätzend ausfallen, so ist das sicherlich das Wichtigste. Keinesfalls müssen auch immer die besten Weine kredenzt und das edelste Stück vom Bio-Rind serviert werden. Vielmehr bemisst sich die Qualität des gemeinsamen Mahls an seiner gemeinschaftsstiftenden Atmosphäre. An eine solche erinnert man sich manchmal noch nach Jahren und Jahrzehnten, wenn die Speisenfolge längst vergessen ist. Und das gilt gerade und besonders auch an Weihnachten.
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