„Jesus ja, Kirche nein!“, lautete ein schon damals heuchlerischer Spruch vor Jahrzehnten. Heute gilt offenbar das Umgekehrte: Glaubt man der aktuellen OGM-Wertestudie, die am Dienstag in Wien präsentiert wurde, haben die meisten Österreicher keinerlei Bedürfnis, Jesus in der Eucharistie und in seinem Wort zu begegnen, halten aber doch an kirchlichem Brauchtum, an Traditionen und Symbolen fest. Zumindest da, wo sie der Selbstvergewisserung der eigenen Identität irgendwie dienen. Schärfer formuliert: Man muss ja nicht selbst an Weihnachten oder Ostern in die Kirche gehen, Hauptsache, die Feste werden den überwiegend nicht-christlichen Schülern präsentiert.
Gewiss, es könnte noch schlimmer sein: Nachdem der Faden der Glaubensweitergabe in Familie, Pfarrgemeinde und Schule bereits gerissen ist, könnte man die eigene Identität an vorhandenen heidnischen Festen wie Christopher Street Day oder Halloween festzumachen versuchen. Oder man ergibt sich der wachsenden islamischen Präsenz und feiert einfach das Zuckerfest mit. Mit Blick auf die Gesellschaft darf man also durchaus aufatmen, wenn 79 Prozent der österreichischen Wohnbevölkerung (mit und ohne Migrationshintergrund) Ostern, Nikolaus und St. Martin in Kindergärten und Schulen gefeiert wissen wollen, wenn 69 Prozent der Befragten die Kreuze in den Schulen hängen lassen wollen – und zwar selbst dann, wenn die Mehrheit der Schüler nicht christlich getauft ist.
Der Geruch der leeren Flasche
Irgendwie schwingt da vielleicht trotz atheistischer Großmutter und religiös unmusikalischem Elternhaus noch das Bewusstsein mit, dass Österreich erst durch das Christentum jenen kulturellen und sozialen Standard erreicht hat, den wir so schätzen. Das ist nicht viel, aber auch nicht nichts, angesichts der wachsenden religiösen – und areligiösen – Pluralität in diesem Land. Vielleicht will der eine oder andere Glaubensferne es auch nur den zugewanderten Muslimen hinreiben, dass man hierzulande auch eine schöne Kultur und Tradition hat, die sie gefälligst zu kennen und zu respektieren haben. Und auch das wäre gar nicht falsch, wenn es nicht wiederum heuchlerisch wäre: Denn auch eine Mehrheit der Befragten ohne religiöse Praxis, ja sogar ohne religiöses Bekenntnis, ist laut Wertestudie für die Sichtbarkeit der Kreuze und der christlichen Feste im öffentlichen Raum.
Für die Kirchen, insbesondere für die katholische Kirche, die Österreich über Jahrhunderte in jeder Hinsicht geprägt hat, ist die neue Wertestudie alles andere als ein Grund zur Zufriedenheit. Und dies nicht etwa, weil sich die Kirchen selbst einem Vertrauensverlust ausgesetzt sehen, sondern weil Kirchenbesuch und Glaubenspraxis weiter im freien Fall sind. Ohne gelebten Glauben aber verkommt Weihnachten zum „Jahresendfest mit Baum“, wie man einst in der DDR spottete, und Ostern zum Frühlingsfest mit Eiern. Ein von Glaubenswissen und Glaubenspraxis entleertes Brauchtum ist wie eine geleerte Flasche besten Rotweins: Man riecht noch eine Weile, welch köstlicher Tropfen wohl darin gewesen sein muss. Aber das war’s.
Für diesen Geruch der leeren Flasche wird man niemanden begeistern können. Und er wird, um im Bild zu bleiben, Zugewanderte auch nicht zu großen Wein-Connaisseuren oder gar Sommeliers machen. Ein nur noch kulturell verstandenes Christentum führt niemanden zu Christus – und es wird mittelfristig auch nicht ausreichen, um die Österreicher ihrer eigenen Identität zu versichern.
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