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Rechtsethischer Rundumschlag

Reinhard Merkel geht in einem Band mit bedeutenden Texten rechtsphilosophischen und bioethischen Grundsatzfragen nach.
Rezension zu Reinhard Merkels „Philosophische Sphären des Rechts"
Foto: IMAGO/Alexandra Fechete (www.imago-images.de) | Reinhard Merkels Abhandlung befasst sich auch mit der Frage des (vom BVerfG untersagten) staatliche Abschießen von gekaperten Flugzeugen.

Wenn ein hochrenommierter „Grenzgänger“ der wissenschaftlichen Befassung mit fundamentalen Rechtsfragen (nicht nur des Strafrechts) im reifen Alter eine Auswahl bedeutsamer Abhandlungen aus den vergangenen 25 Jahren (ergänzt um einen bislang unveröffentlichten Text) vorlegt, ist allein dies schon für jeden an Philosophie und Recht interessierten Leser ein Ereignis. Wenn die Auswahl dann auch noch so zentrale Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens wie (beispielhaft) das (vom BVerfG untersagte) staatliche Abschießen von gekaperten Flugzeugen, den Sinngehalt strafrechtlicher „Schuld“ in Abgrenzung von bloßer „Rache“ oder die sogenannte „Triage“ in Zeiten knapper intensivmedizinischer Ressourcen betrifft, ist die Lektüre ein Muss.

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Der Autor wird seine Leser aber auch durch drei besondere Eigenheiten begeistern: seine große Belesenheit weit über die Grenzen des eigenen Faches hinaus, die sprachliche Brillanz und die nicht selten überraschenden Wege seiner Gedanken weitab vom juristischen „Mainstream“. Im Ganzen geht es Reinhard Merkel, wie bereits die Betitelung des Werkes in Anlehnung an Walzers „Spheres of Justice“ erkennen lässt, um problemorientierte Analysen auf fundamental bedeutsamen Themenfeldern in gewinnender „Verschränkung“ von juristischer und philosophischer Betrachtung, nicht um ein übergreifendes abstraktes Theoriegebäude (Vorwort).

Argumentative Grundlagen in kritischer Absicht beleuchtet

Durchweg ist es nicht lediglich die inhaltliche Positionierung, sondern sind es vor allem die argumentativen Grundlagen, die Merkel in kritischer Absicht beleuchtet: So hält er zwar die Bestrafung der Täter vor dem Nürnberger Militärtribunal 1945 für richtig, falsch sei jedoch die Konstruktion gewesen, die man dem Prozess seinerzeit unterschob, um den „Bruch des Rückwirkungsverbots“ (keine Strafe ohne gesetzliche Strafbarkeit zur Tatzeit am Tatort) zu kaschieren.

Auch folgt der Autor zwar im Ergebnis dem Votum des BVerfG zum Abschuss von Flugzeugen, den zu erlauben in einer „legitimen, hinreichend rechtsstaatlichen Verfassungsordnung“ nicht möglich ist: Anstelle jedoch mit der tradierten Objektformel eine menschenwürdewidrige „Verdinglichung“ der selbst zu Opfern gemachten Passagiere zu behaupten, läge die bessere Lösung in der Einsicht, dass diese mangels eigenen Zutuns für die Konfliktbeseitigung nicht „zuständig“ seien. Eingeschoben finden sich hier überaus scharfsinnige Deutungen zum Notwehrrecht bei tödlicher Angriffsabwehr (der Angreifer als „mittelbarer Täter gegen sich selbst“?) – für alle im Strafrecht Kundigen ein wahrlich „intellektueller Schmaus“.

Der internationale Terrorismus fordert ein rechtsstaatliches Strafrecht in besonderer Weise heraus: Denn es fragt sich, ob die „bürgerstrafrechtlichen“ Garantien (wie etwa die Unschuldsvermutung, die Beschuldigtenrechte unter anderem) auch dem „paradigmatischen Feind“ der freiheitlich verfassten Gesellschaften (weiterhin) gewährt werden sollten. Die Debatte um ein sogenanntes „Feinstrafrecht“ hat zwar inzwischen an Intensität verloren, ist aber in der Sache bis heute von ungebrochener Aktualität. Ebenso liegt es mit der „neurobiologischen Herausforderung“ des (Straf-)Rechts, die den Ewigkeitsstreit zwischen Deterministen und Indeterministen nach der Jahrtausendwende vehement neu entfacht hat. Eine rasante tour d´horizon durch das komplexe Labyrinth an Gründen und Gegengründen zeigt unter anderem auch, warum und wie sehr das strafrechtliche Alltagsverständnis als naiv bezeichnet werden muss.

Fundamentale Beiträge zum Medizin- und Biorecht

Fundamentale Beiträge zum Medizin- und Biorecht krönen den Band, die Brücke bildet die These Merkels, dass der Verlust der Autonomiebefähigung zu einem „Bruch der personalen Identität“ mit der Folge einer mangelnden Verantwortlichkeit für frühere Handlungsakte führen kann. Weil dies wohl das gesamte System der Vorsorge für das Lebensende (vor allem die Patientenverfügung) in Frage stellen dürfte, öffnen sich für den kritischen Betrachter des geltenden Betreuungsrechts interessante Folgefragen (zum Beispiel zum „natürlichen Willen“ von einwilligungsunfähigen Patienten oder zu sogenannten „Odysseusverfügungen“).

Kann es Schadensersatz für fehlerhaftes ärztliches Handeln mit der Folge der Geburt eines unerwünschten oder schwerbehinderten Kindes geben, ohne das entstandene Leben als „unwertig“ anzusehen? Auch die Befassung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu „wrongful birth“ und „wrongful life“ führt unweigerlich zu ethischen Grundfragen des Rechts. Die sogenannte „Früheuthanasie“ (zielgerichtete Verweigerung der Lebenserhaltung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen) zählt zu jenen Themen, die Straf- und Medizinrechtswissenschaftler weithin meiden – mit einer großen Ausnahme: Reinhard Merkel.

Keine Frage: In manchen Positionierungen dürften die Thesen Merkels für Katholiken eine Provokation darstellen. Allerdings lohnt sich die Auseinandersetzung mit Merkels Buch gerade auch für sie, nicht zuletzt, weil der Verfasser immer auf transparente und stets anregende Weise argumentiert. Das gesamte Werk durchzieht eine glasklare und logisch stringente Analyse der jeweils verhandelten Konfliktszenarien. Es zeigt einen Autor, der dem menschlichen Leben einen hohen, aber keinen absoluten Wert zuschreibt und generell der individuellen Freiheit, nicht einem Kollektivismus zugetan ist. Deshalb ist auch der Beitrag des Autors zur Wissenschaftsfreiheit, heute mehr denn je bedroht, im Kontext der drei im Untertitel benannten Buchkapitel nur auf den allerersten Blick eine Überraschung.

Kritik am vorliegenden Werk zu äußern, wirkt im Lichte des Ganzen als schiere Beckmesserei: Die Debatte zur Triage ist nach Erscheinen des Merkelschen Textes nicht stehengeblieben, und insbesondere seine Zustimmung zum gesetzlichen Verbot der sogenannten ex post-Triage (fortlaufende Re-Evaluation bereits behandelter Patienten, vgl. jetzt § 5c IfSG) werden heute vermutlich einige (so auch der Verfasser dieser Zeilen) nicht teilen. Aber selbst im inhaltlichen Gegensatz inspiriert Merkel auf geistreiche Weise: Wer den Autor kennt, hatte allerdings nichts anderes erwartet.


Reinhard Merkel: Philosophische Sphären des Rechts. Rechtsethische Aufsätze zu Krieg und Frieden, Freiheit und Schuld, Leben und Tod, Paderborn: Brill mentis, 2023, 371 Seiten, EUR 59,¬–

Der Rezensent ist Direktor der Abteilung für strafrechtliches Medizin- und Biorecht sowie Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Göttingen.

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