Das vorliegende Buch ist eine Bombe. Eine, die genug Sprengkraft besitzt, um einen ganzen Zweig der Medizin, nämlich die Transplantationsmedizin, nachhaltig zu erschüttern. Wie der Würzburger Medizinrechtsexperte Rainer Beckmann im Vorwort seines Opus magnum schreibt, hatte das Amtsgericht Würzburg vor einigen Jahren „die Frage zu entscheiden, ob für eine ,hirntote’ Schwangere ein Betreuer bestellt werden kann“. Aufgrund dieses Falles habe er sich nochmals „besonders intensiv mit dem ,Hirntod’ beschäftigen“ wollen. Daraus sei das vorliegende Buch entstanden.
Ausgangspunkt der Überlegungen Beckmanns ist „die Frage, wie man als Richter zu einem Urteil über einen Sachverhalt kommen kann, der in seiner Komplexität weit über das hinausgeht, was üblicherweise im Alltag eines Amtsrichters zu entscheiden ist“. Wolle man sich dem von der Bundesärztekammer und der herrschenden Meinung in den Rechtswissenschaften akzeptierten „Hirntod“-Konzept „nicht unbesehen anschließen“, gelte es, die „allgemeinen Regeln zur Beurteilung fremden Sachverstands vor Gericht anzuwenden“. Und genau das tut der Autor in diesem Buch.
Das Ergebnis ist vernichtend: „Durch das ,Hirntod’-Konzept wird verschleiert, dass ,Hirntote’ nicht tot sind. Ein Zustand schwerster Hirnschädigung, der ohne medizinisches Eingreifen in Kürze zur Desintegration des Organismus führen würde, erhielt im Rahmen der ,Neudefinition des Todes’ Ende der 1960er-Jahre ungerechtfertigt das Etikett ,Tod’. Maßgebliches Motiv war dabei die Förderung der Transplantationsmedizin. De facto wurde damit das Tötungsverbot zum Zwecke der Gewinnung möglichst lebensfrischer Organe durchbrochen.“
Eine rechtswidrige Richtlinie
Wie Beckmann in seinem Buch minutiös aufzeigt, eignet sich weder der „Hirntod“ als Kriterium der Feststellung des Todes, noch vermöge dessen gesetzliche Regelung im Transplantationsgesetz (TPG) und in den von der Bundesärztekammer erlassenen Richtlinien zu überzeugen. „Der Begriff der ,Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms’ in § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG“ verschleiere den Umstand, „dass vor der Entnahme von Organen nicht die Funktionsfähigkeit des gesamten Gehirngewebes überprüft wird und deshalb zum Zeitpunkt der Feststellung des ,Hirntodes’ auch nicht der Ausfall ,aller Hirnfunktionen’ bzw. der ,gesamten Hirnfunktionen bewiesen ist“. Die 2022 aktualisierte Richtlinie zu Tod und Hirntod sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) sogar „rechtswidrig“ und daher „für niemanden verbindlich“.
Die Liste der Kritik, die der Medizinrechtler nach minutiöser materieller Prüfung zutage fördert, ist lang und schmutzig. Zu dem Wichtigsten gehört sicherlich, dass der „scheinbare ,Ganzhirntod’ in der Richtlinie von vorne herein nur als Teil-,Hirntod’ konzipiert“ sei. „Ein nicht unwesentlicher Teil des Gehirns – das Zwischenhirn – wird weder erwähnt, noch geprüft. Das Kleinhirn wird zwar als Gegenstand der Prüfung genannt, aber tatsächlich ebenfalls nicht geprüft“. Zu Recht bewertet der Autor auch den sogenannten „Apnoe-Test“ kritisch. Um zu prüfen, ob der Patient noch zur Spontanatmung fähig ist („Apnoe-Test“), wird er bei diesem zeitweise vom Beatmungsgerät abgekoppelt. Hierbei kann es zu schwerwiegenden Komplikationen und Nebenwirkungen bis hin zum Herzstillstand kommen. Beckmann: „Der Apnoe-Test“ hat für die betroffenen Patienten keinerlei Nutzen, kann aber in Grenzfällen zusätzliche Schädigungen herbeiführen.“ Da er nach der Auffassung der Bundesärztekammer (BÄK) auch ersetzt werden könne, „fehlt eine nachvollziehbare Begründung dafür, weshalb er trotzdem als Bestandteil der ,Hirntod’-Diagnostik grundsätzlich vorgeschrieben ist. Ohne konkrete Einwilligung der Betroffenen oder ihrer rechtlichen Vertreter“ sei dieser Test daher „nicht zu rechtfertigen“.
Hirntote Schwangere
Wie Beckmann ferner zeigt, befinden sich „Patienten mit ,Hirntod’-Syndrom nicht in einem Stadium des Zerfalls und der Desintegration“. Die Desintegration sei gegeben, wenn der „Absterbungsautomatismus“ beginne, „der bei jedem Leichnam in prinzipiell gleicher Weise abläuft und es dem Rechtsmediziner erlaubt, auf den Todeszeitpunkt (ungefähr) zurückzurechnen. Treten diese Verfallserscheinungen nicht auf, liegt auch keine Desintegration vor. Das ist besonders offensichtlich bei ,hirntoten’ Schwangeren, die über Wochen und Monate ein Kind austragen können, gilt aber auch für alle Patientinnen und Patienten mit ,Hirntod’-Syndrom, an denen nicht nach ungefähr 30 Minuten erste Leichenflecken auftreten.“ Wenn also „das Todesverständnis“ wesentlich von der „Desintegration des Organismus als Ganzem“ geprägt sei, dann müssten „Patienten mit ,Hirntod’-Syndrom als (noch) lebend angesehen werden“.
Zwar seien die Betroffenen „zweifellos stark beeinträchtigt“ und „eine Besserung des Zustandes“ in den allermeisten Fällen sehr wahrscheinlich „nicht mehr möglich“. Auch würde „ohne medizinische Intervention auch außerhalb des Gehirns eine funktionale Abwärtsspirale entstehen, so dass innerhalb kurzer Zeit erste sichere Todeszeichen aufträten.“ Aber: „Die Phase des zunehmenden Zerfalls tritt nicht bereits mit der Feststellung des ,IHA’ ein, sondern erst mit Einstellung der Intensivbehandlung“. IHA steht für „irreversibler Hirnfunktionsausfall“.
Beckmann: „Nach dem eigenen Todesverständnis der Bundesärztekammer sind ,hirntote’ Patienten gerade nicht tot, solange die lebenserhaltenden Maßnahmen andauern.“ Denn: „Durch die künstliche Beatmung (und weitere intensivmedizinische Maßnahmen) wird in den Krankheitsverlauf eingegriffen und der Sterbeprozess, der durch eine primäre oder sekundäre Hirnschädigung begonnen hat, unterbrochen bzw. sein Fortschreiten aufgehalten“. „Der ,Hirntod’/,IHA’ steht deshalb als Todeskriterium in unauflöslichem Widerspruch zu der Todesdefinition, die ihm zugrunde liegen soll“.
Leider dürfte der exorbitante Preis des so wichtigen Buches der Verbreitung abträglich sein, die es verdient hätte und die dringend erforderlich wäre, wollte man dem Sterben auf dem OP-Tisch durch die Entnahme lebenswichtiger Organe ein Ende bereiten.
Rainer Beckmann: Das „Hirntod“-Konzept und der Tod des Menschen. Eine Untersuchung aus der Perspektive prozessualer Beweiswürdigung, Baden-Baden: Nomos, 2025, 923 Seiten, EUR 279,–
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