Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Rezension

Die falsche Erlöserin

Die Netflix-Serie „Wayward – Unberechenbar“ zeigt ein Geflecht aus Macht, Kontrolle und Täuschung – und erzählt zugleich vom Vertrauen und dem fragilen Bedürfnis nach Rettung.
Evelyn Wade (Toni Collette) leitet in „Wayward – Unberechenbar“ eine Einrichtung für „schwierige“ Jugendliche. Polizist Alex Dempsey (Mae Martin) beginnt zu ahnen, dass sich hinter der Fassade etwas Dunkles verbirgt.
Foto: Michael Gibson (WAYWARD_101_20240729_MG_03033) | Evelyn Wade (Toni Collette) leitet in „Wayward – Unberechenbar“ eine Einrichtung für „schwierige“ Jugendliche. Polizist Alex Dempsey (Mae Martin) beginnt zu ahnen, dass sich hinter der Fassade etwas Dunkles verbirgt.

In der US-amerikanischen Kleinstadt Tall Pines betreibt Evelyn Wade (Toni Collette) eine Akademie für „schwierige“ Jugendliche. Offiziell dient die Einrichtung der Wiedereingliederung und Therapie, in Wahrheit aber stellt sie ein System aus Demütigung, Überwachung und Isolation dar. Schon der Blick auf das abgeschlossene Gelände erinnert an die real existierenden „Therapie Camps“, die Eltern als letzte Hoffnung verkauft werden. 

Im Zentrum steht Evelyn Wade, eine charismatische, freundlich auftretende Frau, deren Einfluss auf Schüler und Eltern sich unmerklich in Kontrolle verwandelt. Collette spielt diese Figur mit einer Vieldeutigkeit, die zwischen Fürsorge und Machtanspruch oszilliert. Tall Pines ist durchzogen von Ritualen, Gruppenzeremonien und einer Sprache der Reinheit, die moralische Kontrolle als seelische „Heilung“ ausgibt. Jugendliche werden nicht als Individuen gesehen, sondern als formbares Rohmaterial, das diszipliniert werden muss. Der Mensch erscheint als Projekt, das man korrigieren darf, bis es sich der Autorität fügt.

Rituale der Unterwerfung

Die Erzählung entwickelt sich auf zwei Ebenen. Auf der einen folgt sie dem Polizisten Alex Dempsey (Mae Martin), der mit seiner schwangeren Frau Laura (Sarah Gadon) – einer früheren Schülerin der Akademie – nach Tall Pines zurückkehrt. Was als Neuanfang gedacht ist, wird zur Konfrontation mit einer verdrängten Vergangenheit. Als ein verletzter Schüler aus Evelyns Institut flieht, ahnt Alex, dass sich hinter der geordneten Fassade des Ortes ein System des Missbrauchs verbirgt.

Parallel dazu erzählt die Serie von den Jugendlichen Abbie (Sydney Topliffe) und Leila (Alyvia Alyn Lind), die als „problematisch“ gelten und in Tall Pines diszipliniert werden sollen. Aus ihrer Sicht werden Schlafentzug, Isolation und Zwangsgesten zu Ritualen der Unterwerfung. Körperliche und seelische Grenzverletzungen werden nicht ausgestellt, sondern in kurzen Andeutungen gezeigt – gerade darin liegt die Wucht der Szenen. Die Serie zeigt, wie Autorität ihre Legitimität verliert, wenn sie keiner Kontrolle mehr unterliegt.

Die Serie gewinnt ihre Stärke aus diesem Spannungsfeld: dem stillen Horror des Alltäglichen. Die ersten Episoden entfalten ein präzises Gespür für Atmosphäre. Farbklima und Kameraarbeit lassen die Wälder um Tall Pines gleichermaßen friedlich und bedrohlich wirken. Lange Korridore, kühle Innenräume und abgedämpfte Lichttöne erzeugen ein Gefühl latenter Beklemmung. Doch im Verlauf wird der Thriller-Anteil zusehends dominant – das Finale überlädt die Handlung mit Symbolik und moralischen Erklärungen. Was als psychologisch feines Kammerspiel beginnt, endet streckenweise im Genrehaften.

Identität und Rollenbilder

„Wayward – Unberechenbar“ soll explizit Fragen von Identität und Rollenbildern berühren. Dass der Polizist Alex Dempsey als „transmaskuliner“ Protagonist angelegt ist – gespielt von der „nichtbinären Person“ Mae Martin – fügt der Serie eine zeitgeistige Dimension hinzu. Die Figur trägt jedoch eine doppelte Last: Sie soll zugleich persönliche Konflikte, Traumata und gesellschaftliche Erwartungen verkörpern. Das gelingende Moment liegt dort, wo die Serie Alex als einen Menschen zeichnet, der Verantwortung sucht, nicht Zugehörigkeit.

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Trotz erzählerischer Überfrachtung bleibt „Wayward – Unberechenbar“ sehenswert. Das liegt weniger an der übersinnlichen Andeutung des Plots als an der psychologischen Klarheit der Figuren. Toni Collette gibt der vermeintlichen Heilerin Evelyn eine sanfte Unheimlichkeit – eine Frau, die glaubt, retten zu können, und gerade darin zerstört. Ebenso eindrucksvoll sind die jungen Darstellerinnen Sydney Topliffe und Alyvia Alyn Lind, deren Freundschaft aus Angst, Nähe und Trotz einen stillen Gegenentwurf zur Manipulation des Erwachsenen-Systems bildet.

So erweist sich „Wayward“ als eine Geschichte über Vertrauen – und darüber, wie leicht Fürsorge zu Kontrolle werden kann. Die Serie verweigert Schuldzuweisungen, sie zeigt Strukturen. Tall Pines ist nicht das Böse an sich, sondern ein Spiegel jener Orte, an denen Macht und Angst aufeinander¬treffen. „Wer schützt Kinder wirklich?“ – diese Frage bleibt, leise und genau deshalb beunruhigend.


„Wayward – Unberechenbar.“ Serienentwickler: Mae Martin. Regie: Euros Lyn, John Fawcett, Renuka Jeyapalan, USA 2025, 8 Folgen à 40-50 Min., auf Netflix

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José García

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