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Dilemma zwischen Staatsräson und Familie

Eine temporeiche Netflix-Miniserie, manchmal mit Seifenoper-Elementen durchsetzt, aber stark, wenn sie Macht als moralische Bewährung erzählt: „Hostage“.
Zwei Präsidentinnen in der Zwickmühle zwischen Staatsräson und Familie: die britische Premierministerin Abigail Dalton (Suranne Jones, links) und die französische Präsidentin Vivienne Toussaint (Julie Delpy).
Foto: IMAGO/Netflix (www.imago-images.de) | Zwei Präsidentinnen in der Zwickmühle zwischen Staatsräson und Familie: die britische Premierministerin Abigail Dalton (Suranne Jones, links) und die französische Präsidentin Vivienne Toussaint (Julie Delpy).

Bei guten Politthrillern stehen nicht nur Karrieren, sondern auch Leben auf dem Spiel. Die Netflix-Miniserie „Hostage“ von Matt Charman versetzt zwei Präsidentinnen in diese Lage und erzählt in fünf Episoden von der Versuchung der Macht, politischer Skrupellosigkeit und der Frage, wie weit Verantwortung reichen darf, wenn das Private unter Beschuss gerät.

Acht Monate nach ihrem Amtsantritt steckt die britische Premierministerin Abigail Dalton (Suranne Jones) in einer doppelten Krise. Ihre Haushaltspriorität – Kürzungen beim Militär zur Stützung des Gesundheitssystems – treibt sie in die Defensive. Zugleich sitzt sie mit der französischen Präsidentin Vivienne Toussaint (Julie Delpy) am Verhandlungstisch: humanitäre Hilfe gegen britische Aufnahme von Flüchtlingen. In genau diesen Gesprächen erreicht Dalton die Nachricht, dass ihr Ehemann Alex (Ashley Thomas), der sich bei der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ engagiert, in Französisch-Guayana entführt wurde. Die Erpresser fordern Daltons Rücktritt – binnen Stunden. 

Ein Schachspiel aus Notlagen

Was nun folgt, ist ein zündstoffreiches Hin-und-Her zwischen Staatsräson und Familie. Charman beschreibt ein Schachspiel aus Notlagen, bei dem jede Figur ein Druckmittel ist: die kriselnde Tochter Sylvie (Isobel Akuwudike), ein sterbender Vater, ein misstrauischer Stabschef (Lucian Msamati) und eine Präsidentin, die sich an die extreme Rechte anlehnen könnte. Formal bleibt die Serie temporeich, wenn auch Seifenopernelemente – zügig montierte Enthüllungen, eine publikumswirksame Affäre – die politischen Fragen manchmal in den Hintergrund drücken. Dennoch überzeugt die Dramaturgie dort, wo sie die Ethik des Amtes ernstnimmt: Wie bewertet eine Regierungschefin das Gemeinwohl, wenn das Leben ihres Ehepartners auf dem Spiel steht? Darf man Terroristen nachgeben, um Zeit zu gewinnen – oder zerstört man damit die Ordnung, auf die man vereidigt ist?

Suranne Jones trägt den Stoff mit einer Mischung aus Disziplin und Verwundbarkeit: keine „Eiserne Lady“-Mimikry, sondern eine moderne Verantwortungsethik, die scheitern darf, ohne zynisch zu werden. Julie Delpy spielt Toussaint als glänzende Gegnerin: spitz, kalkuliert, aber nicht herzlos. Wenn beide einander brauchen, ohne zu vertrauen, erreicht „Hostage“ seine besten Momente – zwei Frauen, die nicht als Symbole, sondern als Charaktere agieren. 

Zwischen Selbstbehauptung und Hybris

Die Schwäche der Serie liegt darin, dass manche Figuren eher funktional angelegt sind, und manche Nebenlinien verpuffen. Man spürt, dass fünf Folgen nicht ganz ausreichen, um die komplexen Themen zufriedenstellend zu beleuchten. Wo „Hostage“ den großen Bogen skizziert – das brüchige Vertrauen der Öffentlichkeit, die digitale Erregung – trifft die Serie allerdings einen schmerzhaften Nerv der Gegenwart. Bemerkenswert ist die Perspektive auf weibliche Führung – gegen das Genreklischee mit starken Männern und  fürsorglichen Frauen. Dass beide sich der Instrumentalisierung des Privaten verweigern wollen, ist die moralische Achse der Erzählung. Hier berührt „Hostage“ Fragen, die über Tagespolitik hinausgehen: Was schuldet ein Amtsträger dem Gemeinwohl? Wo endet Selbstbehauptung und beginnt Hybris?

Ästhetisch überzeugt „Hostage“ durch kompakte Schauplätze und handfeste Produktion. Die Serie bremst selten; wer fein ziselierte Politikprozesse sucht, wird die Verdichtung bemängeln. Wer jedoch bereit ist, die Genre-Mischung Politthriller und Melodrama zu akzeptieren, erhält spannende, mitunter atemlose Unterhaltung, getragen von starken Hauptdarstellerinnen. „Hostage“ zeigt, wie schnell der Dreiklang aus Wahrheit, Maß und Gemeinsinn zerreißt, wenn persönliche Verwundbarkeit und politischer Nutzen gegeneinander aufgerechnet werden. Es ist ein Verdienst der Serie, diese Zerreißprobe nicht zynisch auszubeuten, sondern als Prüfung der Integrität zu erzählen. Dass nicht jede Wendung plausibel ist, mindert die Relevanz des Grundkonflikts nicht. „Hostage“ erweist sich als sehenswerte Miniserie, die die Fragilität liberaler Ordnungen spürbar macht.


„Hostage“. Serienentwickler: Matt Charman. Großbritannien 2025. Miniserie mit 5 Folgen von 38-46 Minuten. Auf Netflix.

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