Kirill Serebrennikovs erster deutschsprachiger Film „Das Verschwinden des Josef Mengele“ basiert auf Olivier Guez’ gleichnamigem, preisgekröntem Roman. Er ist weit mehr als eine historische Rekonstruktion – vielmehr ein filmisches Gleichnis über die Macht der Ideologie, die Verführbarkeit des Menschen und die gefährliche Bereitschaft einer Gesellschaft, Schuld zu verdrängen, sobald sie unbequem wird. Serebrennikov, der russische Regisseur im Berliner Exil, inszeniert die Geschichte des „Todesengels von Auschwitz“ ohne jede Psychologisierung. August Diehl verkörpert Josef Mengele nicht als Monster, sondern als Gestalt des kalten Nihilismus, der entsteht, wenn der Mensch sich selbst zum Maß aller Dinge erhebt.
Eine Vergangenheit, die sich nicht abschütteln lässt
Buenos Aires, 1956: Mengele lebt unter dem Namen Gregor unbehelligt. Mit Hilfe eines weit verzweigten Netzwerks aus Unterstützern und durch die finanzielle Rückendeckung seiner Familie entzieht er sich über Jahre hinweg erfolgreich der internationalen Strafverfolgung. Doch zunehmend gezeichnet von Krankheit, Alter und Isolation, wird sein Leben immer enger. Als sein inzwischen erwachsener Sohn Rolf (Max Bretschneider) ihn schließlich aufspürt, kommt es zu einem wortlosen, beklemmenden Aufeinandertreffen zwischen Vater und Sohn – ein Moment der Konfrontation mit einer Vergangenheit, die sich nicht abschütteln lässt.
Kirill Serebrennikov geht es nicht nur darum, die Flucht eines Täters nachzuzeichnen, sondern auch darum, das Scheitern einer Zivilisation zu zeigen, die zu früh vergessen wollte. Selbst in der jungen Bundesrepublik konnte Mengele noch mit seinem echten Namen einen Pass beantragen und kurzzeitig nach Deutschland zurückkehren. Diese historisch verbürgte Episode ist für Serebrennikov symptomatisch: Sie legt eine Gesellschaft offen, die lieber die Augen schloss, als sich der eigenen moralischen Katastrophe zu stellen.
In Schwarz-Weiß gedreht, wirkt „Das Verschwinden des Josef Mengele“ wie ein filmischer Schattenraum – eine Welt ohne Gnade, in der Licht und Dunkel nicht mehr unterscheidbar sind. Dies wird insbesondere auch von der ausgezeichneten Kameraarbeit von Vladislav Opelyant getragen. Nur einmal erlaubt sich der Regisseur Farbe: in einer Rückblende an einen Sommertag in Auschwitz, als Mengele mit seiner Frau am See lacht, während im Hintergrund das Grauen der Vernichtung weitergeht. Es ist ein Moment von beinahe unerträglicher Banalität – und zugleich die stärkste Anklage.
Moralische Gleichgültigkeit
Serebrennikov verweigert Erlösung. Mengele altert, verarmt, wird paranoid – aber er bleibt ungebrochen. Schuld, Reue, Gewissen: All diese Begriffe sind für ihn Fremdwörter. Seinem Sohn Rolf bleibt er jede Antwort schuldig. In dieser Wortlosigkeit liegt die eigentliche Tragödie: die Unfähigkeit, das Böse beim Namen zu nennen. „Das Verschwinden des Josef Mengele“ ist damit kein Film über den Holocaust allein, sondern eine Bestandsaufnahme des Menschen nach Gott. Wenn die Wahrheit relativiert und das Gewissen abstumpft, kann das Böse ungehindert fortbestehen – nicht mehr als offene Gewalt, sondern als moralische Gleichgültigkeit.
Produzent Felix von Boehm sagt dazu: „Wir leben wieder in ideologisch aufgeladenen Zeiten.“ Der Film ist eine Warnung vor jeder Weltanschauung, die die Würde des Menschen dem „großen Zweck“ opfert. Das gilt nicht nur für den Totalitarismus vergangener Jahrhunderte, sondern ebenso für moderne Heilsversprechen, die im Namen von Fortschritt, Technik oder Selbstbestimmung dieselbe Hybris wiederholen: den Menschen zum Schöpfer über Leben und Tod zu machen. Serebrennikov ist kein schöner Film gelungen. Aber er zwingt zur Erinnerung: Am Ende bleibt kein Mitleid mit dem Täter, sondern die Frage an den Zuschauer: Haben wir aus dieser Geschichte gelernt?
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