Deutschland im April 1945: Auf der nordfriesischen Insel Amrum schlängeln sich sanfte Dünen am Wattstrand entlang; alte Fischerhäuser ranken sich um die Dorfkirche. Die Einwohner sprechen einen eigenen Dialekt, nicken freundlich zur Begrüßung und nehmen Flüchtlinge bei sich auf. Doch in „Amrum“, dem neuen Kinofilm vom deutsch-türkischen Filmemacher Fatih Akin („Gegen die Wand“), brodelt es bei aller scheinbaren Idylle unter der friedlichen Oberfläche. Das Rauschen der Wellen wird bald vom Motorenlärm der alliierten Bomber übertönt. Die Sandstrände verlieren ihren Charme, wenn plötzlich ein toter Soldat angeschwemmt wird.
Das friedliche Miteinander kann schnell in Feindschaft umschlagen, wenn jemand öffentlich Zweifel am Endsieg äußert. Auf Amrum bricht man Kaninchen das Genick; Robben schießt man in den Kopf und Vaterlandsverrätern droht Ähnliches. In seinem autobiographisch gefärbten Roman "Amrum" (2024) schrieb der Hamburger Autorenfilmer Hark Bohm („Nordsee ist Mordsee“) über seine Kriegs-Kindheit auf der nordfriesischen Insel. Ursprünglich wollte er sein Werk selbst verfilmen, doch die Kräfte des mittlerweile 86-jährigen ließen es nicht mehr zu und so hat jetzt sein guter Freund Fatih Akin aus Bohms persönlichen Erinnerungen einen berührenden und poetischen Coming-of-Age-Film gedreht, der den Wahnsinn des Krieges aus der Perspektive eines Jungen zeigt, welcher sich auf eine ereignisreiche Insel-Odyssee begibt.
Ein Zwölfjähriger kämpft um seine Mutter
Ein weißes Brot mit Butter und Honig - nach nichts sehnt sich Hille Hagener (Laura Tonke), die Mutter des zwölfjährigen Nanning (Jasper Billerbeck), mehr. Gerade hat sie im Radio gehört, dass Adolf Hitler „im aufopferungsvollen Kampf gegen die Bolschewiken gefallen ist“. Der Krieg scheint damit verloren zu sein. Hille, die eine überzeugte Nationalsozialistin ist und gerade ihr drittes Kind zur Welt gebracht hat, versinkt in Depressionen und will nichts mehr essen. Nur auf ein weißes Brot mit Butter und Honig, darauf hätte sie noch Appetit. Doch ihr Wunsch ist schier unerfüllbar, denn auf Amrum sind diese Lebensmittel allesamt Mangelware. Nanning lässt sich davon jedoch nicht entmutigen und arbeitet fortan einfallsreich an der Beschaffung dieser kostbaren Güter, damit seine Mutter wieder neue Kraft schöpfen kann. Als „Zugereister“ aus seiner ausgebombten Heimatstadt Hamburg und Sohn eines sich in Kriegsgefangenschaft befindenden ranghohen Nazis erfährt er immer wieder Misstrauen und Spott seitens der Insulaner. Doch er lässt sich nicht kleinkriegen. Tauschhandel, Tagesmärsche durchs Watt, Robben- und Kaninchenjagd, menschliche Grenzerfahrungen und selbst ein leidiger Besuch beim Nazi-Onkel Onno (Jan Georg Schütte) bringen ihn nicht von seiner Mission ab.
Als er seiner Mutter das Brot schließlich nach einer langen Heldenreise am Ende servieren kann, ist die Welt um ihn herum eine andere geworden. Mit dem ersehnten Kriegsende treten neue Konflikte zu Tage. In seiner Kinoadaption folgt Fatih Akin seinem jungen Protagonisten auf dessen Streifzügen durch die Insel. Die unbändige Schönheit Amrums fängt er dabei mit faszinierenden Lichtstimmungen und wunderschönen Naturschauspielen ein, so dass man sich mitunter wie in einem Urlaubs-Werbespot wähnt, der zwischendurch unterbrochen wird von dokumentarisch anmutenden Tier-Bildern. Der Regisseur versteht es jedoch meisterhaft, nicht ins Kitschige abzudriften. Denn die Idylle, die er präsentiert, birgt auch stets Gefahren für Leib und Leben. Die größte Gefahr für die Menschen auf der Insel ist aber nicht die raue Natur, die sie umgibt, sondern die Natur des ideologisch gespaltenen Menschen, der zu allem fähig ist. Das gemeinsame Drehbuch von Fatih Akin und Hark Bohm bleibt eng bei Nannings persönlicher Geschichte, verhandelt aber zugleich in Ansätzen die großen Themen „Zweiter Weltkrieg und Nationalsozialismus“. Nanning ist existentiell hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu seiner regimetreuen Mutter und der Solidarität mit anderen Inselbewohnern, von denen viele nichts von Hitler und den Nazis halten.
Stimmungsvoller Jugendfilm
Wie sich dieser emotionale Spagat für einen Zwölfjährigen anfühlen muss, das spielt Hauptdarsteller und Leinwandentdeckung Jasper Billerbeck wahrlich großartig. Ihm zur Seite steht dabei ein prominent besetztes Starensemble, denn neben Laura Tonke tauchen auch Diane Kruger als Tessa Bendixen und Detlev Buck als Sam Gangsters, Lars Jessen als Opa Arjan und Lisa Hagmeister als Nannings Tante Ena in interessanten Nebenrollen auf. Zudem schaut auch noch Matthias Schweighöfer für einen Kurzauftritt vorbei, den man sich aber auch hätte sparen können, weil dieser der Handlung des Films nichts hinzufügt.
Fatih Akins Regiearbeit macht aus „Amrum“ im besten Sinne „einen Hark Bohm Film von Fatih Akin“, wie es auch im Vorspann heißt. Zudem verpackt Kameramann Karl Walter Lindenlaub („Independence Day“) den Film sowohl in große Leinwandbilder als auch in ein spannendes Abenteuer, in dem es immer wieder um das Werden und Vergehen, um Leben und Tod geht. Vor allem aber um Themen wie Familie, Freundschaft, das Erwachsenwerden in schwierigen Zeiten, die Vertreibung aus dem Paradies und letztlich auch um den Verlust der Unschuld. Die Grausamkeit der Kriegsjahre und die Gräueltaten der Nazis blitzen nur am Rande auf. Statt einer bitteren Abrechnung wird kindlicher Optimismus geboten. Als erzählerische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus funktioniert der Film daher nur bedingt, als ein stimmungsvoll gefilmter Jugendfilm aber ist er durchaus sehr empfehlenswert.
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