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Notker Wolf: „Jesus war nicht politisch korrekt“

Sechzehn Jahre nach seinen „Ketzerischen Gedanken zu Deutschland“ hat sich der mittlerweile emeritierte Abtprimas der Benediktiner, Notker Wolf, noch einmal zu einem politischen Buch hinreißen lassen: „Warum lassen wir uns verrückt machen? Neue, ketzerische Gedanken.“ Der Tagespost hat er nun erzählt, wie es dazu gekommen ist. Ein Gespräch über Pharisäertum und die Botschaft Jesu in Zeiten von Corona-Pandemie und ausufernder politischer Korrektheit.
Notker Wolf, emeritierte Abtprimas der Benediktiner,
Foto: Wolfgang Radtke (KNA)

Abt Notker, warum haben Sie sich entschieden, mit 82 Jahren nochmal ein neues Buch zu schreiben?

Ich habe einfach eine Wut bekommen über die ganze Angstmacherei während der Corona-Zeit. Gerade zu Beginn war es unglaublich. Alle Medien haben in dasselbe Horn geblasen, nach dem Motto „jetzt kommt der Weltuntergang“. Kein Wunder, dass dann so viele Verschwörungstheorien aufgetreten sind. Ich weiß nicht, warum man immer den Teufel gleich an die Wand malen muss. Ich male lieber den Herrgott an die Wand. Damit komme ich besser durchs Leben. Angstfrei. Und das war mein großes Anliegen.

Übertriebene Angst war schon immer Ihr Thema, oder? In einem Interview aus dem Jahr 2018 haben Sie anlässlich der Flüchtlingskrise auch schon über Ängste und politische Blockbildung gesprochen. Was war denn in der Coronakrise so neu und singulär, dass Sie dem eine neue Qualität zumessen?

Wir sind in der Corona-Zeit einfach überfallen worden. Die Runde der Ministerpräsidenten hat entschieden, was zu tun ist, was zu unterlassen ist. Mir hat das Parlament immer gefehlt. Aber es ist auch ein bisschen deutscher Charakter, unterwürfig zu sein, geradezu nach dem Staat zu rufen, nach dem Motto „Papa, hilf mir!“, wenn irgendwas schiefzugehen droht. Man meint, von oben her kann alles erledigt werden, statt die eigene Resilienz aufzubauen, und das Ganze auch mit Humor zu sehen. Mein Vater hatte immer den Spruch „Seit einer das Sterben erfunden hat, ist man seines Lebens nicht mehr sicher“. Und das hat mir in der ganzen Corona-Zeit gefehlt. Wir müssen auch einfach mit dem Tod rechnen. Nicht aus Angst, sondern aus Nüchternheit.

Die Kirchen haben sich nicht gerade mit einem durch Gottvertrauen inspirierten Mut hervorgetan. Stattdessen vorauseilender Gehorsam und eine bisweilen übervorsichtige Haltung. Wie ist es dazu gekommen?

Als zum ersten Mal die Kirchen geschlossen werden sollten, hat Frau Merkel gesagt, das sei mit den Kirchen abgesprochen. Das ist aber erst zwei oder drei Tage später passiert. Die Kirche hat dem nicht widersprochen, hat sich auch nicht bemüht, die Angst der Menschen zu lindern. Ich vermute, in der Öffentlichkeit wollten wir nicht wieder den bösen Buben spielen, nachdem die Kirche sowieso so ein negatives Image hat. Mich hat das so gestört – lasst die Kirchen offen, zum Donnerwetter, dafür sind sie da! Warum sollen gerade in der Corona-Zeit die Leute nicht bei Gott Zuflucht suchen? In deine Hände lege ich meinen Geist, lege ich mein Leben, so heißt es am Schluss der Komplet. Stattdessen wurde die Angst eher noch verstärkt. Im Übrigen wurde ja immer behauptet, alles sei so wissenschaftlich. Dabei habe ich keinen Beweis, dass bei unseren Gottesdiensten jemand angesteckt worden ist. Wo bleiben die Beweise?

Meist wird an dieser Stelle mit dem Präventionsparadox argumentiert. Man kann es nicht beweisen, aber vielleicht hätte es ohne Einschränkungen eine massive Welle gegeben, dann wäre der Aufschrei auch groß gewesen…

Ja, wer sagt denn das, dass eine Welle gekommen wäre? Zuerst muss mal etwas kommen und dann muss man es bekämpfen, aber nicht vorher schon. Ich bleibe ja auch nicht zu Hause in der Wohnung, weil ich auf der Straße vielleicht überfahren werden könnte, dabei gibt es da sogar genug Fälle. Es gibt ein gesundes Gefahrenbewusstsein. Aber mein Gott, was bei den Gottesdiensten alles geradezu fabuliert wurde, wie ängstlich wir sein müssten, da habe ich doch noch ein anderes Vertrauen zum Herrgott. Wenn Sie damals in einer Beratungskommission gesessen hätten, was hätten Sie der Politik geraten? Ich hätte erstmal geschaut, sind auch Psychologen da, sind Soziologen da? So eine Krankheit betrifft den ganzen Menschen. Wie wird der mit der Krankheit fertig und was passiert, wenn unter Menschen kein Kontakt mehr da ist? Wenn bei Schwerkranken niemand mehr dasitzen und die Hand halten darf? Das Menschenbild wurde reduziert auf reine Physik oder reine Chemie.

Auch in anderen Gebieten kritisieren Sie Prinzipienreiterei, und diagnostizieren einen zunehmenden Moralismus. Was verstehen Sie darunter? Es kann ja nicht verkehrt sein, zu versuchen, moralisch zu leben, oder?

Moral brauchen wir, sonst funktioniert eine Gesellschaft nicht, gar keine Frage. Aber wer bestimmt, was ich genau zu tun und zu unterlassen habe? Da treten Moralwächter auf, die mir sagen, ich müsse in Zukunft nur mehr vegan leben, nur das rettet unser Klima. Entschuldigung, aber mir schmeckt ein Schnitzel einfach und mit Veganismus rette ich die Welt auch nicht. Wenn ich mit meiner Pfeife auf der Bank im Park sitze, kann es passieren, dass Leute von der weit entfernten Nachbarbank kommen und mir sagen, ich dürfe nicht rauchen, ich mache andere Leute krank. Allein der Anblick eines Rauchers löst also bereits einen politisch korrekten Impuls aus. Ich verstehe ja, dass man vor Gefahren warnt. Aber die Übergriffigkeit ist unglaublich. Was mich an den moralisch Korrekten am meisten stört, ist ihre Humorlosigkeit. Wenn Sie eine kurze Anekdote gestatten: Während einer Tagung bei einem Spaziergang im Garten sagt ein protestantischer Professor zu seinem katholischen Kollegen, der sich eine dicke Zigarre anzündete: „Aber, Herr Prälat, jetzt in der Fastenzeit?“ - Antwort: „Ja, Sie reden über die christliche Freiheit, wir haben sie.“ Jesus waren jedenfalls die religiösen Autoritäten, die Scheinheiligen und ihre Heuchelei ein Dorn im Auge. Je mehr ich mich betender Weise ins Neue Testament hineinbegeben habe, desto klarer ist mir geworden, wie moralisch und politisch inkorrekt Jesus ist. Es geht ihm um Aufrichtigkeit zum Wohl des Menschen, gegen alle Heuchelei.

„Die moralisch Korrekten meinen, sie könnten den Menschen zur absoluten Heiligkeit erziehen“

Die moralische Empörung entzündet sich ja nicht nur an falschem Verhalten, sondern auch an falscher Sprache. Dabei geht es meist darum, man könne mit den falschen Begriffen verletzen.

Richtig, ich möchte natürlich auch niemanden verletzen, aber die allgemeine Verletzbarkeit, diese totale Sensibilisierung finde ich ungeheuerlich. Das ist meines Erachtens ein Angriff auf unsere Freiheit. Ich muss auch noch jemandem etwas zumuten dürfen, denn mir wird auch viel zugemutet. Wenn beispielsweise ein Rockkonzert abgebrochen wird, nur weil sich einige wegen den Rastalocken der Musiker unwohl fühlen, dann werden all die anderen terrorisiert. Es zählt nicht mehr die Vernunft, sondern nur mehr das Gefühl des einzelnen Individuums. Und bisher war die Vernunft doch noch ein Korrektiv für unser Verhalten. Was aber ist vernünftig? Wo ich Freiheit habe, muss ich das rechte Maß einhalten, ja es ist geradezu Zeichen unserer Freiheit. Ich selbst muss im konkreten Fall entscheiden, was das rechte Maß ist. Gerechtigkeit ist notwendig, aber Gerechtigkeitsfanatiker zerstören Menschen. Die Gerechtigkeit braucht das Korrektiv durch die Barmherzigkeit.

Sie interpretieren in die Bibelstelle, in der Jesus mit seinen Jüngern durch die Felder streift, und sie am Sabbat Ähren abreißen, eine gewisse Absicht hinein, ein Vergnügen daran, die Pharisäer zu ärgern. Ist es legitim, Empfindlichkeiten anderer Menschen absichtlich aufzuspießen?

Absolut! Macht Spaß! Man muss sich im Leben zwei Dinge bewahren: die Neugier eines Vierjährigen, wie lang man einen Regenwurm ziehen kann. Und die Spitzbübigkeit eines 11-Jährigen, Leute mal ein bisschen zu stupfen. Heute ist es ja ein Kapitalverbrechen, eine Fensterscheibe einzuschmeißen. Als Kinder haben wir das gemacht und sind davongelaufen. Natürlich wussten wir auch, dass das nicht gut ist. Aber meine Güte, wir können heute scheinbar nicht mehr einschätzen, was ein Lausbubenstreich ist, und das ist ein echtes Problem.

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Heute steht ja bereits die eigene Kindheit gelegentlich im Verdacht, mit menschenfeindlichem Gedankengut infiziert gewesen zu sein. Dabei, so schreiben Sie, sei die Barbarei historisch gleichverteilt. Aber gibt es nicht doch einen gewissen zivilisatorischen Fortschritt?

Also ich weiß nicht, ob die Menschheit wirklich besser geworden ist. Wir unterliegen in der Moral gerne einem Evolutionsglauben. Wir meinen, es muss aufwärts gehen. Ich bin der Überzeugung, jede Generation muss sich erneut zu einem guten, moralischen Verhalten untereinander durchringen. Außerdem muss man differenzieren. Ich würde sagen, wo wir in der Vergangenheit Böses getan haben, aus Dummheit oder aus Machtwillen, da müssen wir hinstehen und um Verzeihung bitten. Es muss eine Versöhnung geben, sonst geht nichts mehr weiter im menschlichen Leben. Die Sünden der Vergangenheit werden aber verzerrt dargestellt. Wenn man sich an etwas Festem orientieren will, bieten sich die zehn Gebote an.

Das reicht?

Wir brauchen als politische Gemeinschaft auch vernünftig begründete, demokratisch gebundene Regeln. Wir brauchen Vorschriften und Kontrollen. Der Mensch ist leider Gottes so schwach, dass er ganz ohne Sanktionen auch nicht auskommt. Biblisch gesprochen: das Böse ist Bestandteil des menschlichen Lebens. Christus ist gekommen, uns einen Weg in die wirkliche Freiheit zu zeigen. Aber es wird die Sünde immer geben. Das wird heute gern übersehen: die moralisch Korrekten meinen, sie könnten den Menschen zur absoluten Heiligkeit erziehen. Doch wenn wir uns die Heiligen genau anschauen, dann haben sie alle auch ihre Schlagseite, alles andere wäre steril. Die eigentliche Heiligkeit besteht in der Liebe, das macht es aus. Und dann kann auch mal was danebengehen. Es ist interessant, dass im Neuen Testament an einer Stelle steht: „Seid heilig, wie euer Vater im Himmel heilig ist“, und bei der Parallelstelle steht: „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist“. Darin besteht die Heiligkeit! Und was die Politik betrifft: Auch hier hilft als Grundhaltung die Nächstenliebe, die Gnade, die Vergebung, beispielsweise der Völker untereinander. Die polnischen und die deutschen Bischöfe haben ja nach dem Zweiten Weltkrieg versucht, die Wunden zu heilen. Versöhnung bedeutet eben das Eingeständnis der Sünde und Vergebung, auch wenn Narben bleiben.

Woher kommt denn der moralische Rigorismus?

Der Mensch sucht etwas Absolutes. Er braucht eine Orientierung. Wie komme ich zum guten Leben? Bereits die Stoiker haben gemerkt, dass die Ausgelassenheit nicht ausreicht. Freude ja, aber Spaß allein genügt nicht, und ich brauche irgendwo etwas. Das wird meistens nicht artikuliert, sondern das ist ein Gefühl, das da ist, ein Gespür.

Früher hat sich die Kirche dazu berufen gesehen, das gute Leben mit seinen Dos und Don’ts relativ konkret auszubuchstabieren. Man hatte die Wahrheit qua Offenbarung gepachtet. Da ist ja ein gewisser inhaltlicher Rückzug zu spüren, Autorität ist negativ belegt. Ein Fehler?

Es gibt laut katholischer Lehre eigentlich nur ein grundlegendes Moralprinzip. Das Gute ist zu tun, das Böse ist zu unterlassen. Danach müssen wir suchen. Was ist das Gute und das Böse? Da kommen wir schnell an den Punkt, alles absolut zu wollen, um etwas Festes zu haben. Und das geht nicht. Ist es etwas Absolutes, wenn Jesus sagt, „Liebe deinen Nächsten, wie ich euch geliebt habe“? Er hat sein Leben hingegeben, können wir jetzt daraus für jeden Einzelfall Vorschriften machen? Nein, ich selbst muss entscheiden, das ist meine Verantwortung. Und ich muss den anderen die Verantwortung zumuten und überlassen, das kann mitunter sehr unangenehm sein. Aber rigide Haltungen sind unmenschlich. Es geht nicht um Beliebigkeit, aber Beweglichkeit gehört dazu. Denn Gott ist nicht derjenige, der mir ständig über die Schulter schaut, der lässt mir die Freiheit. Das ist sein Geschenk und damit meine Verantwortung. Was ich brauche, um damit umzugehen, ist das Vertrauen, dass Gott und in ihrem Innersten auch seine Welt gut sind, und das Selbstbewusstsein, das daraus erwächst.


Notker Wolf: „Warum lassen wir uns verrückt machen? Neue ketzerische Gedanken“.
Bonifatius Verlag 2022, 208 Seiten,  ISBN 978-3897109087, € 22,-

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