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Die Talkkratie mutiert zur bevorzugten Herrschaftsform

Moderne Gladiatorenkämpfe. Die Talkshows haben nichts mehr mit Debatten- oder Demokratiekultur zu tun. Etwas Niveau wäre eine wünschenwerte Zutat.
«Anne Will»
Foto: Wolfgang Borrs (NDR) | Die Talkshow im deutschen Fernsehen - hier Anne Will - wird zur Gladiatorenarena.

Sie sind inzwischen so etwas wie der Darm der Republik: Man wirft oben ein Themenstück ein, dann durchläuft es viele Windungen und Kurven, bis am Ende nur noch Brei übrigbleibt: politische Talkshows. Von den Wills und Illners gibt es nunmehr unzählige Kopien. Zwar sehen alle anders aus, ziehen aber bewährt dieselbe Show ab. Zumeist mit immer denselben Experten für alles und dem Aufreger der Woche, über den man sich einfach nie genug aufregen kann.

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Gladiatorenkämpfe 

Was vielleicht einmal mit Sabine Christiansens Format als demokratieförderliche Erklär- und Debattiersendung begann, ist mit Maischberger und Co. zum Volksunterhaltungsprogramm generiert. Das archaische Vorbild ist schnell ausgemacht: Es geht um Gladiatorenkämpfe, bei denen niemand gewinnen soll. Und statt Argumentationen darzustellen, besteht allzu oft die einzige Ambition der Gespräche darin, die oder den anderen einer Lüge oder zumindest eines Widerspruchs zu überführen.

So war die indessen legendäre Lanz-Sendung mit Harald Welzer und Richard David Precht anlässlich ihres medienkritischen Buchs wirklich Theater vom Feinsten. Mit nichts wurde gespart. Während der Philosoph die Aussagen der Journalisten Melanie Amann und Robin Alexander (auch zwei Dauergäste auf allen Kanälen) der Denunziation und der unzureichenden Lektüre bezichtigte, warfen die Redakteure den Autoren Pauschalsierungen vor. Es wurde also gekeift und gefightet, teils richtig unter der Gürtellinie, damit das Publikum auch mal wieder etwas zum Lachen hat. War sonst noch etwas?

Mehr Niveau bitte

Ach ja, vor der Talkkratie gab‘s die Demokratie und dieses Parlament, das ohne Zuschauer nur noch der Selbstbespaßung diente. Was kann uns jetzt retten? „Phoenix“-Runden? Hier darf man noch ausreden und echten Experten, die sich in einem Gebiet richtig gut auskennen, zuhören. Aber wem nützt das Jammern? Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, Jeannies nicht mehr in eine Flasche stopfen und Journalisten, die jahrelang hinter ihren Newsdesks festsaßen und endlich den Ruhm als Kommentator für alles genießen, werden sich auch nicht mehr in ihre Höhlen zurückziehen.

Trotzdem muss die Devise lauten: Mehr Niveau bitte, mehr Vielfalt an Themen und Gästen, eine Kultur des Zuhörens! Wie soll auch eine in Teilen infantile Wutgesellschaft in den sozialen Medien ansonsten wieder die Fähigkeit zum Konsens und der gegenseitigen Achtung erlernen, wenn es schon im Leitmedium wie auf einem Schlachtfest zugeht?

Wiederbelebung des Interviews

Eventuell brauchen wir auch wieder neue, alte Möglichkeiten wie das Interview. Es verspricht beispielsweise eine Intensität, wie sie im öffentlichkeitswirksamen Streit nie entstehen könnte. Tief in die Gedanken des Gegenübers zu gelangen, ist eine Kunst und Resultat einer Vertrauensbildung, die Zeit, Muse und Offenheit benötigt. Also all das, was die Meister des investigativen Dazwischenredens nicht mitbringen. Bis die Welt allerdings eine bessere wird, müssen wir uns in Genügsamkeit üben und uns den immer selben Film mit unterschiedlichen Titeln anschauen. Wir präsentieren „Termintalker II“, „Jurassic Talk“ und „Mission Unschweigsam“. Hauptsache, Sie bleiben dran! Ein magerer Brei erweist sich doch nach wie vor besser als gar keinen Brei.

Lesen Sie in der kommenden Ausgabe der Tagespost in der Kolumne Hayers Horizonte eine fundierte Kritik an der Unkultur der Talkshow.

Themen & Autoren
Björn Hayer Harald Welzer Richard David Precht

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