Das Abendland hängt in den Seilen. Und das ist noch äußerst vorsichtig formuliert. Denn wenn man ohne rosarote Brille nach Europa und in die Vereinigten Staaten von Amerika schaut, wird man nahezu allerorts religiösen, geistigen, kulturellen, politischen und sittlichen Verfall erblicken. Zweifellos gibt es dabei gewaltige Unterschiede zwischen Stadt und Land sowie zwischen verschiedenen Regionen und Nationen. In Ländern wie Ungarn hat man zumindest begriffen, dass die Probleme der Gesellschaft nicht allein auf politischer Ebene zu lösen sind. Denn das Politische kann – das berühmte Diktum Böckenfördes lässt grüßen – keine religiöse, kulturelle oder sittliche Substanz erschaffen, sondern muss diese immer schon voraussetzen.
Das eigentliche Problem ist daher die geistige Aushöhlung des Okzidents. Dessen kulturelles Fundament und geistiger Kern war während der letzten rund 1.500 Jahre das Christentum. Mit dem Verlust des Volksglaubens und der Verwässerung des christlichen Menschenbildes ist, so scheint es, auch das Abendland an den Rand seines Untergangs gekommen. Und was noch schlimmer ist: Es deutet wenig bis nichts darauf hin, dass die europäischen Völker noch über ausreichend geistige Reserven und seelische Widerstandskraft verfügen, um die katastrophalen Tendenzen umzukehren.
Angesichts einer solchen Diagnose kann man die unverbesserlichen Optimisten unter den Zeitgenossen förmlich schon „Pessimismus!“ schreien hören. Doch mit diesem Wort ist nichts von Bedeutung ausgesagt. Schließlich ist des einen Pessimismus des anderen Realismus. Was dagegen schon schwerer wiegt, ist der Vorwurf des freiheitsverneinenden Fatalismus. Die These, dass es Gesetzmäßigkeiten der Geschichte gebe, hat im 20. Jahrhundert Karl Popper mit großer Verve als „Elend des Historizismus“ zurückgewiesen. Der Mensch, so Popper, sei frei und der Lauf der Dinge daher nicht vorherbestimmt.
Der Erfolg von Poppers Thesen basiert aber mehr auf rhetorischem Geschick als auf argumentativer Stärke. Zwar hat der österreichische Philosoph mit Blick auf die falschen Prophetien Karl Marxens recht behalten, mit dem von ihm ebenfalls abgelehnten Geschichtsdenken Oswald Spenglers verhält es sich aber anders. Denn wer einmal aufmerksam Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ (1918 / 1922) gelesen hat, anstatt bloß das kursierende Halbwissen darüber nachzuplappern, der wird einer der zentralen Einsichten dieses Werkes kaum etwas entgegensetzen können, und zwar weder empirisch noch logisch: Kulturen verfügen analog zu Individuen über einen organischen Lebenszyklus, der mindestens das Entstehen und Vergehen umfasst. Wo die Bedingungen günstig sind, ereignet sich zwischen diesen beiden Polen eine reichhaltige und vielfältige Entwicklungs- und Blütezeit sowie schließlich der unvermeidliche Niedergang.
Der Untergang ist auch Vollendung
Im Idealfall ist der „Untergang“ einer Zivilisation nach Spenglers Vorstellung auch nur ein anderer Name für ihre Vollendung: Wenn ihre kulturstiftenden Vitalkräfte aufgebracht sind, wenn sie alles aus sich herausgeholt hat, was in ihr steckte, dann geht eine kollektive Gestalt des Lebens zu Ende.
Selbst wenn man Bedenken gegen ein solch „organisches“ Geschichtsdenken haben sollte, ist es eine unbestreitbare Tatsache, dass bisher noch jedes Reich, jede Zivilisation untergegangen ist. Warum sollte für die unsere etwas anderes gelten?
Anders als Popper meinte, führt die Anerkennung historischer Notwendigkeiten auch nicht zwangsläufig dazu, den freien Willen des Einzelnen leugnen zu müssen. Man muss sich klar machen, dass ja auch das Leben von Individuen dem biologischen Entwicklungsgesetz von Entstehung, Entwicklung, Blüte, Verfall und Vergehen unterworfen ist. Ungeachtet dessen steht es jedem Greis frei, sich wie ein Jüngling aufzuführen. Tatsächlich jünger wird er dadurch selbstverständlich nicht, sondern gibt sich bloß der Lächerlichkeit preis, die entsteht, wenn ein Mensch das Unausweichliche nicht akzeptieren will. Ebenso verhält es sich auch bei Zivilisationen: Am Ende ihres Lebenszyklus angekommen, gilt es die letzten Tage würdig zu verbringen und den Nachlass klug zu regeln, statt sich Illusionen längst vergangener Präpotenz hinzugeben.
Nun scheint es jedoch einen gewichtigen theologischen Grund zu geben, trotz allem vom Fortbestand des Abendlandes auszugehen. Denn Jesus selbst hat das Versprechen gegeben, die Pforten der Hölle würden seine Kirche nicht überwältigen (Mt 16,18); diese Kirche aber scheint mit dem Geschick des Abendlandes untrennbar verbunden zu sein. Auf das Wort Gottes müssen Christen freilich uneingeschränkt vertrauen, aber vom Abendland hat Christus nicht gesprochen, sondern allein von seiner Kirche. Die Vorstellung, das Christentum könnte nicht ohne Abendland bestehen, ist jedoch schnell widerlegt. Die ersten Christen, auch die bekehrten Griechen, waren keine Abendländer in unserem Sinne. Ebenso wenig sind es die Christen in Afrika heute, die uns Europäer an Zahl und Frömmigkeit längst hinter sich gelassen haben.
Auch auf Spengler kann man sich bei der exklusiven Identifikation von Christentum und Abendland nicht berufen. Ihm zufolge gehört der christliche Glaube an seinen Anfängen zur „magisch“-arabischen Welt. Das Abendland wiederum, das bei ihm die Antike ausdrücklich nicht mit umfasst, ist vor allem durch den um circa 900 nach Christus einsetzenden „germanischen Katholizismus“ geprägt.
Das Christentum ist keine politische Heilslehre
Das Grundproblem des spenglerschen Denkens – der Relativismus – manifestiert sich freilich auch in dieser Aufspaltung des Christentums in verschiedene christliche Kultursphären. Was im Rahmen einer solchen Konstruktion unbegriffen, ja unbegreifbar bleibt, ist die universelle Wahrheit des Christentums. Sicher, die Menschwerdung Gottes ereignete sich zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte, in einer ganz bestimmten Kultur. Aber die Wahrheit, die damit in Raum und Zeit fleischliche Gestalt annimmt, ist ihrem Inhalt und ihrer Geltung nach nicht auf eine partikulare Zivilisation beschränkt. Insofern Christen dies glauben, kann ihnen auch die sich vollziehende Vollendung – der Untergang – des abendländischen Lebenszyklus nicht den Mut nehmen. Egal welche Zukunft politisch und kulturell auf uns zukommt, die Aufgabe der Christen wird es ungeachtet ihrer zahlenmäßigen Stärke immer sein, die historisch verankerte und doch zeitlose Wahrheit ihres Glaubens in die Welt zu tragen.
Der heilsgeschichtliche Triumph des Christentums ist für den Gläubigen unausweichlich. Diese Gewissheit sollte aber nicht zum Missverständnis führen, dass dem Christentum nun trotz aller Widrigkeiten ein wundersamer politischer Siegeszug bevorstünde. Eine solche Vorstellung ist nicht nur politisch, sondern auch theologisch abwegig. In dieser Hinsicht ist das Scheitern des Christentums, wie es der kolumbianische Aphoristiker Nicolás Gómez Dávila ausgedrückt hat, selbst christliche Lehre. Oder wie es Robert Spaemann einmal in einem Interview formuliert hat: „Als Christen glauben wir nicht, dass die Zivilisation am Ende das Reich Gottes hervorbringt, sondern die innere Dynamik der Geschichte bringt den Antichrist hervor. Und das Reich Gottes wird am Ende von außen her einbrechen. Das ist immer christliche Überzeugung gewesen.“
Gleich ob wir bis zur Wiederkunft Christi noch Jahrhunderte des modernen Katakombenchristentums zu ertragen haben oder ob es gelingt, auch die kommende, nach-abendländische Kultur von Grund auf christlich zu prägen, die folgende Einsicht kann gar nicht stark genug betont werden: Das Ziel des Christentums besteht nicht darin, den Himmel auf Erden zu errichten. Dieser Irrglaube war und ist vielmehr das sichere Erkennungszeichen eines todbringenden Totalitarismus. Stattdessen gilt es, sich selbst und – so weit es unter den Bedingungen des Sündenfalls eben möglich ist – die Gesellschaft nach Maßgabe Christi zu formen, um so auf das wahre Ende der Geschichte vorbereitet zu sein.
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