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Transhumanismus und Genderismus: Das Verschwinden der Person

Transhumanismus und Genderismus stellen die christliche Anthropologie vor neue Herausforderungen.
Gender - Freie Wahl des Geschlachts
Foto: Adobe Stock

Die Grundlagen der christlichen Anthropologie werden durch das postmoderne Denken, das zu einer radikalen Historisierung der Denkformen und einer Dekonstruktion des universalen Begriffs der Wahrheit voranschreitet und in seinem Anti-Essentialismus ein „Wesen“ des Menschen verkennt, in Frage gestellt. Die Freiheit des „deregulierten Subjekts“ wird als eine unbändige ausgegeben, die den Menschen neu entwerfen soll. Dies führt auf der einen Seite dazu, für einen biotechnologischen Transhumanismus einzutreten, der auf ein Mischwesen von biologischer Masse und technologischem Artefakt zielt. Und auf der anderen Seite befördert es den arbiträren Genderismus, der ignoriert, dass die menschliche Biologie ein wesentlicher Bezugspunkt für die Identität des Menschen ist.

Das Tier-Mensch-Übergangsfeld

Der Postmodernismus verwirft Universalien, Essenzen und Genres ebenso wie die Idee der Einheit des Logos – als der Wahrheit und der Vernunft – sowie der Einheit des Menschen – nämlich seines in der traditionellen philosophischen (und theologischen) Anthropologie vorausgesetzten universalen Wesens. Wo der Mensch nicht mehr in seiner naturhaften Substantialität und geistigen Intentionalität verstanden wird, löst sich jede klare Abgrenzung zur Tierwelt auf. Es gibt nur noch einen – in der Komplexität der neuronalen Verbindungen gelegenen – graduellen Unterschied zu nichtmenschlichen Lebewesen. Wir befinden uns in einem Tier-Mensch-Übergangsfeld.

Die unbändige Freiheit

Der Traum von der unbändigen Freiheit des „deregulierten Subjekts“ führt dazu, einem biotechnologischen Transhumanismus das Wort zu reden, in dem sich der substanzlose Mensch mit einem technischen „Kleid“ ausstattet oder sich selbst stets neu entwirft. So dämmert die Ära der Cyborgs herauf. Die Technikvisionen der 90er Jahre scheinen die unangenehmen Eigenschaften zu haben, sich in die Realität umsetzen zu lassen. Nathan S. Line und Manfred E. Clynes hatten bereits 1960 vorgeschlagen, den menschlichen Körper mit spezifischen Implantaten fit für das Leben im Weltraum zu machen. Seither lässt die inventive Vorstellung eines Mensch-Maschinen-Systems oder kybernetischer Organismen die neue Generation der Techniker nicht mehr los: Entgrenzung des menschlichen Körpers durch Technologie ist das Ziel – ein „Über-Hinaus“ des Menschen.

Die Interferenz von Naturwesen Mensch und technischen Apparaten, die in seine Biologie integriert werden, scheint dem Individuum kurzfristig mehr Flexibilität in Raum und Zeit zu geben. Wird jedoch das dergestalt seiner Umwelt flexibler adaptierte und aufgerüstete Wesen dabei nicht in neue Systeme eingezwängt, die auch neue Abhängigkeiten mit sich bringen?

Mensch und Maschine

Man hat schon früh begonnen, fehlende Teile des menschlichen Körpers durch technische Elaborate auszugleichen. Sie entsprechen in ihrer Funktion dem, wozu das jeweilige Körperteil dienlich wäre, falls vorhanden. Dies scheint unproblematisch, solange der Mensch selbst es ist, der damit Tätigkeiten vollzieht, die seiner Species entsprechen und der Verwirklichung seiner Vermögen dient: Künstliches Hüftgelenk, künstliche Knie, künstliche Hand, Stents in den Blutgefäßen, et cetera. Aber Cyborgs sind dann doch etwas anderes.

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Eine Grenzüberschreitung liegt dann vor, wenn die „Natur“ (bei Aristoteles die prôte ousia) durch das technische Implantat oder durch genetische Manipulation derart verändert wird, dass ein Mischwesen aus biologischer Substanz und Technologie (Mensch und Maschine) das Labor des Erfinders verlässt (so wie die „Borgs“ in der Serie „Star-Trek“ auf einmal die Szenerie bevölkerten). Dabei findet in der Interferenz von menschlicher Erstform und technischen Komponenten eine Verlagerung der Gewichtung hin zur Maschine statt.

In dem Fall wird vergessen, dass der Mensch, wie er von Natur her da ist, die Grundlage dafür bietet, dass Technik überhaupt sein kann, während diese in ihrer vom Menschen gesetzten Zweckbestimmung (externe Teleologie) aufgeht. Prima facie erfolgt die Integration von Mensch und Maschine zwar freiwillig, um die Anpassung an neue Umgebungen zu ermöglichen; sie läuft dann aber unbewusst weiter, ohne die personalen Entscheidungen zu beachten, mit denen der Mensch er selbst bleiben kann.

Sex und Gender

Wo Technologie auf den Menschen selbst angewandt wird, um in seine Biologie integriert zu werden, gilt es – um des Menschen willen – auf der Hut zu sein: Die Technik, die durch bestimmte Bedürfnisse entstanden ist und zur Kompensation seiner fehlenden oder defizienten Ausstattung bzw. zur Organentlastung dient, greift gravierend in die menschlichen Handlungsfelder ein – bereits dort, wo sie seinem Organismus äußerlich bleibt. Sie wirkt schon bei der permanenten Nutzung von Apparaten auf den zurück, der sie gebraucht, und führt zu Kompetenzverlust und zur Änderung seiner Denkformen und seines Handelns.

Elon Musk, Tesla-Gründer und Multimilliardär, möchte mit seinem 2016 gegründeten Start-up „Neuralink“ einen Chip entwerfen, der unter der Haut auf dem Schädelknochen angebracht wird. Die zuvor von einem Roboterchirurgen ins Gehirn gefädelten mikrometerdünnen Fasern leiten diesem Chip Daten zu, die drahtlos in einen hörgeräteähnlichen Minicomputer gelangen, den man per Smartphone und Computer steuern kann. Umgekehrt gelangen so auch Daten und Befehle in das Gehirn.

Ungeahnte Fähigkeiten sollen dem Menschen in Zukunft per Hirnware-Update daraus erwachsen. Aber welche neuen externen Konditionierungen kommen da auf ihn zu? Bereitet man so einem „neuen Denken“ den Weg?

Es kann schnell passieren, dass der Mensch – in technische Regelkreise hinein adaptiert – zum integralen Teil eines Systems wird, in dem er als Person verschwindet.

Verlust menschlicher Substanz

In dem Augenblick, wo Computertechnologie oder Robotik in seine körperlichen Vollzüge implantiert wird, um bis zu Gehirn und Bewusstsein vorzudringen, ist es schon um ihn geschehen. Der Cyborg ist am Ende nicht mehr menschliche Substanz mit spezifisch menschlichen Vollzügen, sondern ein Agglomerat, ein Bündel von akzidentellen Relationen, die ihn externen Zweckbestimmungen gefügig machen.

Fluide Identitäten

Eine fluide Identität der Modi des Menschseins suggeriert uns eine durch eine überstaatliche Agenda forcierte Gendertheorie: Ein rein genetisches Verständnis des Menschen lässt die Ansicht entstehen, was männliche oder weibliche Geschlechtlichkeit ausmache, liege allein in der Variabilität der Chromosomen begründet. Die biologische „Natur“ des Menschen, die phänomenologisch in der Ausprägung der Geschlechtsorgane zum Ausdruck kommt, zählt hier nicht. Sex und Gender stehen einander gegenüber. Letzteres ist ein bloßes gesellschaftliches Konstrukt und ein durch soziale Einflüsse erzeugtes Gefühl. Zugrunde liegt ein nicht offen zutage tretender moderner Cartesianismus.

Danach besitzt der Mensch keine vorgegebene leib-seelische Natur, sondern findet sich als rein spirituelles Ich einer körperlichen Verfügungsmasse gegenübergestellt, die er geschlechtlich auch umpolen kann, wenn es beliebt. Mädchen mit einem weiblichen Körper sollen ein Mann werden können, und Jungen mit einem männlichen Körper eine Frau. Da die menschliche Biologie, die den Körper prägt, wesentlicher Bezugspunkt für die Identität des Menschen ist, erweist sich die Behauptung von Genderideologen, das psychologische Gefühl gebe an, welches Geschlecht jemand habe, als irrig. Auch die These, dass es etwa in Deutschland 60 verschiedene Geschlechter gebe, ist zu hinterfragen. Ein falsches Menschenrechtsdenken, nach dem jeder Mensch seine eigene Geschlechtlichkeit wählen können müsse, lässt heute viele Jugendliche, die nicht auf erwachsene Leitung setzen können, in einer fluiden Identität dahinleben. Sie meinen, sich neu erfinden zu müssen, was ihnen auch als „Chance“ eingeredet wird.

Die menschliche Person nicht zur Disposition stellen

Auf dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskurse ergibt sich durch die Gefährdungen des in der Natur verankerten menschlichen Selbstseins das Desiderat, die aristotelisch gefasste prôte ousia des Menschen in ihrer Relevanz für sein Selbstverständnis neu zu bedenken. Auf diese Weise wird sich zeigen, was nicht zur Disposition gestellt werden darf, wenn es um den Menschen geht: allem voran die zentrale Stellung der menschlichen Person, die auf der Einheit einer Leib-Geist-Natur fußt und die unableitbar und nichtreproduzierbar bleibt.

Der Autor ist Professor für Dogmatik und ökumenische Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Pölten.
 
Kurz gefasst

Der Traum von der unbändigen Freiheit des „deregulierten Subjekts“ führt dazu, einem biotechnologischen Transhumanismus das Wort zu reden, in dem sich der Mensch dauernd neu entwirft. Doch in dem Augenblick, in dem der Mensch Computertechnologie oder Robotik in seine körperlichen Vollzüge implantiert, um bis zu Gehirn und Bewusstsein vorzudringen, ist es um ihn geschehen. Denn der Cyborg ist ein Bündel akzidenteller Relationen, die ihn externen Zweckbestimmungen gefügig machen. Eine ähnliche Gefahr geht vom Genderismus aus, dem zufolge der Mensch sein Geschlecht wählen könne.

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