Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung HAYERS HORIZONTE

Augenklappe zu und durch!

In Zeiten von Oberflächlichkeit empfiehlt sich ein Blick in die zeitlosen Errungenschaften unserer Kultur. Die Werke der französischen Autorin Marguerite Duras eigenen sich dafür hervorragend.
Olaf Scholz mit Augenklappe im Plenarsaal des Bundestags
Foto: Kay Nietfeld (dpa) | Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nimmt im Plenarsaal des Bundestags zu Beginn der Haushaltswoche an der Sitzung teil. +++ dpa-Bildfunk +++

Man könnte sich in diesen Zeiten, in denen geschmacklose Witze über die Augenklappe eines sichtlich übel verletzten Kanzlers zumeist unkommentiert in alle Medien kursieren, und in denen überhaupt die Oberflächendiskurse jeden Tiefgang verhindern, lange mit mangelnder Moral beschäftigen. Drum soll diese Kolumne heute einmal einem Werk gelten, das im Gegensatz zu den Moden unserer Tage überzeitliche Dauer beanspruchen kann, nämlich jenem von Marguerite Duras (1914-1996). Gerade tauche ich wieder in ihre zahlreichen Romane ein und bin fasziniert von diesem wechselvollen Leben, das seinen Anfang im wilden Dschungel Indochinas, damals eine französische Kolonie, nahm, später in Frankreich in den Kampf in der Résistance überging und zuletzt seinen Höhepunkt in Weltbestsellern wie „Der Liebhaber“ (1984) fand.

Liebe, zum Scheitern verurteilt

Am meisten ragt natürlich in diesen von Krieg und Zerstörung heimgesuchten Tagen das von ihr geschaffene Filmdrama „Hiroshima, mon amour“ heraus. Es erzählt von der Liebe auf den ersten Blick. Diese ist nicht nur von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil die beiden Beteiligten bereits in ehelichen Strukturen verfestigt sind. Auch der im Hintergrund nachwirkende Krieg führt in die Unmöglichkeit der Liebe. Er legt sich als denkbar schwerstes Gewicht auf die erträumte Leichtigkeit des Seins. Was für das individuelle Ineinander von Glück und Unglück gilt, spiegelt sich zugleich auf der gesellschaftlichen Ebene. Immer wieder durchstößt die helle Sicht der Protagonistin auf Hiroshima die Schattenwand der Realität: „Wie hatte ich ahnen können, dass diese Stadt nach den Maßen der Liebe gebaut ist?“ Eine trügerische Wahrnehmung, die eben möglicherweise blind vor Liebe ist, stellt doch Duras noch zu Beginn fest: „Es ist unmöglich, von Hiroshima zu sprechen. Alles was man tun kann, ist darüber zu sprechen.“

Lesen Sie auch:

 Auflösen lässt sich diese Paradoxie vielleicht nur so: Vor allem weil es keine Worte für das grauenvolle Schicksal dieser Metropole gibt, muss man im Sinne stetiger Annäherung versuchen, Worte dafür zu finden. Die Sprachsuche gleicht der Suche nach dem insbesondere hier buchstäblich zwischen Ruinen und Wiederaufbauten verschütteten Gefühl der Liebe: „Diese so ungewöhnliche, so alltägliche Umarmung findet statt an dem Ort der Welt, an dem sie am schwersten vorstellbar ist.“ Was uns dieser Text lehrt, ist die Verpflichtung, im Abgrund des Krieges eine Sprache der Menschlichkeit zu finden. Oder anders gesagt: Dort, wo Liebe am meisten fehlt, muss sie umso mehr gesucht werden. Lesen wir also wieder mehr Duras. Vielleicht verlernen wir dann auch endlich ein wenig die Häme und den Spott, mit denen sich so manche über Augenklappen lustig machen.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Björn Hayer Französische Schriftstellerinnen und Schriftsteller Humanität Marguerite Duras

Weitere Artikel

Über die Liebe trotz widrigster Umstände. In Erinnerung an Marguerite Duras, die Schafferin des Films "Hiroshima, mon amour".
13.09.2023, 12 Uhr
Vorabmeldung
Das erste Erscheinen der „Tagespost“ verpasste der französische Schriftsteller Georges Bernanos nur um wenige Wochen.
11.09.2023, 11 Uhr
Veit Neumann
Die Destruktion des Christlichen wird vorangetrieben. Die Kirche muss sich kritisch zur Wehr zu setzen und die Schönheit des Glaubens verkünden.
08.09.2023, 07 Uhr
Stefan Groß-Lobkowicz

Kirche

Vorsitzender der Bischofskonferenz gibt in Abschlusspressekonferenz einen Überblick über die Vollversammlung. 
28.09.2023, 16 Uhr
Meldung
In der 122. Folge des Katechismuspodcasts beschäftigt Guido Rodheudt die Frage, was das Opfer Christi bewirkt.
28.09.2023, 14 Uhr
Meldung
Die Verhandlungen im Finanzprozess um spekulative Geschäfte des Vatikans sind am Mittwoch wieder aufgenommen worden. Die Vatikanbank fordert nun 700 Millionen Euro zurück.
28.09.2023, 11 Uhr
Meldung