Der bekannte Psychiater und Buchautor Manfred Lütz beklagt in einem Beitrag für „Die Tagespost“ (Donnerstag), dass manche Bistumsleitungen in der Missbrauchskrise auf den Gedanken verfallen seien, „die verblichenen Vorgänger zur Rechenschaft zu ziehen“ statt selber für sich Konsequenzen zu ziehen. Er erklärt, warum man einem kirchlichen Verantwortungsträger noch bis etwa zum Jahr 1990 in der Regel keinen Vorwurf habe machen können, wenn er einen geistlichen Missbrauchstäter versetzt habe, ohne die Gemeinde vor Ort über das Geschehene zu informieren.
Die historische Perspektive ist entscheidend
Ein solches Verhalten, das heute unverantwortlich wäre, sei damals fast unvermeidlich gewesen, so Lütz. „Im Gegensatz zu heute ließ nämlich die Wissenschaft damals die Bischöfe komplett im Stich.“ Um Gerechtigkeit zu erreichen, sei die historische Perspektive daher entscheidend. 1970 etwa habe der führende deutsche Sexualwissenschaftler Eberhard Schorsch bei einer Anhörung im Deutschen Bundestag erklärt, gewaltfreie Sexualkontakte zwischen Erwachsenen und Kinder schädigten gesunde Kinder nicht. „Das war noch bis Ende der 80-er Jahre herrschende Lehre!“, so Lütz.
Nirgends habe ein Bischof dem Psychotherapeuten zufolge vor 1990 erfahren können, dass vor allem pädokriminelles Verhalten ein hohes Rückfallrisiko beinhalte oder dass Missbrauch zu posttraumatischen Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen führen könne. Dennoch habe es auch damals schlimme Fehlverhaltensweisen gegeben, so Lütz. DT/om
Warum nach 1990 andere Maßstäbe an kirchliche Verantwortliche anzulegen sind als vorher, lesen Sie in der kommenden Ausgabe der „Tagespost“.