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„Fiducia supplicans“: Dokument mit kurzer Halbwertszeit

Wie schon frühere Vatikandokumente könnte die Grundsatzerklärung des Glaubensdikasteriums bald von der Wirklichkeit in der Weltkirche vollkommen überholt sein.
Victor Manuel Fernandez
Foto: IMAGO/Vandeville Eric/ABACA (www.imago-images.de) | Kardinal Fernandez dürfte mit seiner Erklärung zwar eine große Welle losgetreten haben. Doch eine lange Wirkungsdauer des Dokumentes ist fraglich.

Vatikanische Verlautbarungen können eine kurze Halbwertszeit haben, man denke nur die Apostolische Konstitution „Veterum sapientia“ von Johannes XXIII. zur Förderung der lateinischen Sprache in der Theologenausbildung. 1962 veröffentlicht, wurde sie nie umgesetzt und ging in den Turbulenzen der Konzilsjahre sang- und klanglos unter. Die gute Absicht des Papstes, das Lateinstudium der Theologiestudenten zu intensivieren, liegt heute in vielen Ortskirchen weitgehend brach. 

Kurzes Verfallsdatum

Auch die kürzlich vatikanische Erklärung „Fiducia supplicans“ zur Segnung gleichgeschlechtlicher Paare scheint zumindest regional ihr Verfallsdatum bereits erreicht zu haben. Begrüßt wurde sie zwar von den Bischöfen, denen die Gläubigen seit Jahren davonlaufen und deren Gespür für authentischen Reformbedarf möglicherweise wieder einmal trügt. Prompter Widerspruch kam dagegen ausgerechnet aus dem Kontinent, in dem die katholische Kirche seit Jahren wächst: Afrika. Hier gibt es eine signifikante Stimme junger Christen in der Öffentlichkeit, die in den sterbenden Ortskirchen Nordeuropas schlicht fehlt.

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Mit Blick auf die Familie stellt sich die Frage, ob der Vatikan gleichgeschlechtlichen Paaren plötzlich eine Vorrangstellung einräumt vor heterosexuellen, denn irreguläre Beziehungen, zu denen in Afrika auch polygame gehören, sind nach wie vor kein Thema. Konjugiert man „Fiducia supplicans“ konsequent durch, muss der Vatikan künftig auch Zweit- und Drittehen wohlwollender betrachten, denn diese afrikanische Tradition dient im Unterschied zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen der Existenzsicherung und soll Witwen und Minderjährige vor Sünden wie Beschaffungskriminalität und Prostitution bewahren. Afrikanische Bischöfe, die in Treue zum katholischen Eheverständnis versorgungsbedürftigen Menschen die Vielehe verweigert haben, müssen die jüngste Vatikanerklärung wie eine Ohrfeige empfinden. 

Der Wind dreht sich schnell

Die Halbwertszeit der Vatikanerklärung dürfte auch darum begrenzt sein, weil sich die öffentliche Meinung nirgends so rasch wendet wie in puncto Bewertung der Sexualität. Jüngstes Beispiel ist die kurz vor Weihnachten veröffentlichte Einordnung der Missbrauchfälle in der Kirche seitens der Spanischen Bischofskonferenz, nachdem die vom Parlament in Auftrag gegebene unabhängige Studie („Cremades-Bericht“) vorgelegt wurde. Was gestern nicht einmal gedacht werden durfte, bringen die Bischöfe nun unzensiert zum Ausdruck: Knapp 82 Prozent der Missbrauchsfälle sind homosexueller Natur. Bisher hat keine Bischofskonferenz widersprochen.
Jede Aufregung um das Vatikandokument ist daher verfehlt. Was heute als Neuerung präsentiert wird, kann morgen schon vergessen sein.

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