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Christus – der verwundete Heiler 

Christus trägt seine Wunden und stellt so die Brücke her zu den Menschen und ihren Wunden.
Christus und Thomas
Foto: via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Christus trägt seine Wunden auch nach Ostern.

Obwohl Ostern als triumphaler Sieg verstanden und gefeiert wird, erzählt das Christentum darin keine Heldengeschichte! Der Evangelist Johannes zeigt das auf eindrückliche Weise, indem er den Auferstandenen den Jüngern nicht als heroische Lichtgestalt, sondern als Verwundeten gegenübertreten lässt (Joh 20,19-31). In der bekannten Szene vom „ungläubigen“ Thomas werden die Wunden Jesu in den Mittelpunkt gerückt. Sie wollen im wahrsten Sinne des Wortes begriffen werden: „Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht. (Joh 20,25)“

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Heilende Hände

Es lohnt sich, etwas tiefer zu gehen, um das Bedeutungsspektrum, das der Evangelist Johannes hier ausbreitet, entdecken zu können. Der Weg führt über eine Geschichte aus der griechischen Mythenwelt, die in der Antike bekannt war und die der Evangelist als Schablone im Hintergrund bemüht: Der Mythos von Cheiron, dem verwundeten Heiler.

Cheiron (griechisch cheír  für „Hand“) war der Legende nach ein Mischwesen, halb Gott, halb Mensch und unsterblich. Dargestellt wird er als ein Zentaur, ein Wesen, dessen Körper aus Pferd und Mensch zusammengesetzt ist. Sein Ziehvater, der Gott Apollo selbst, unterrichtete Cheiron in der Heilkunst. Unser heutiger medizinischer Begriff Chirurgie zeigt eine Verbindung zu diesem mythischen Heiler an.

Die Geschichte berichtet nun von einem einschneidenden Ereignis im Leben Cheirons. Eines Tages wurde er von einem Pfeil verwundet. Weil der Pfeil vom Gift der Hydra benetzt war, verheilte die Wunde nicht, sondern blieb Cheiron, als Quelle andauernden Schmerzes, erhalten.

Diese bleibende Wunde löste bei Cheiron einen Sinneswandel aus und führte ihn zu einer neuen Erkenntnis. Er stellte fest, dass ihm das Bewusstsein der eigenen Verwundung die Augen für die Wunden seiner Patienten öffnete. In der Folge hat ihn das zu einem überragenden Heiler gemacht.

Arzt und Patient

Die therapeutische Medizin der Gegenwart greift diesen Mythos wieder auf, wenn es darum geht, ein ideales Patienten-Arzt-Verhältnis und einen ganzheitlichen Heilungsansatz zu entwickeln. Demnach macht einen guten Arzt genau jenes Wissen um die eigenen Wunden und Verletzungen aus. Die eigenen Wunden können als Ausweis von Erfahrung verstanden werden, sie dokumentieren bestandene Prüfungen und bescheinigen erlangtes Wissen. Der Gedanke, dass Krankheit und Leid auch zur biographischen Erfahrungswirklichkeit des Arztes gehören, ermöglicht Solidarisierung zwischen Arzt und Patient: Die Wunden werden zur Brücke! Ein guter Arzt weiß also im Angesicht seines Patienten, dass er nicht Gott in Weiß, sondern selbst ein Verwundeter ist. Im Idealfall wird der Arzt dem Patienten dann zum Vorbild, indem er zeigt, wie Wunden im Leben integriert werden können. Eine Vorstellung von Heilung greift zu kurz, die nur auf die Wiederherstellung von Körperfunktionen etc. abzielen würde. Heilung meint immer auch, die Erfahrung von Verwundbarkeit und Sterblichkeit als festen Bestandteil des Lebens zu reflektieren und anzunehmen.

 

 

Die mythische Geschichte von Cheiron berührt den Auferstandenen in mehrfacher Hinsicht. Eine bemerkenswerte sprachliche Verbindung stellt ein Leitwort der Evangelienstelle her. Mehrmals ist darin von der Hand die Rede, entweder von der Hand des Thomas, der die Wunden berühren will/soll, oder von den verwundeten Händen Jesu. Der griechische Begriff cheír (Hand) im Evangelium ruft für den antiken Leser/Hörer die Figur des Zentauren Cheiron in Erinnerung. Eine weitere Parallele legt das Wesen Cheirons vor, der göttlich-menschlich vorgestellt wird und darüber hinaus unsterblich ist. Ohne dem Anspruch dogmatischer Präzision gerecht werden zu wollen, können auch hierin Gemeinsamkeiten mit dem Auferstandenen beobachtet werden. Des Weiteren teilen sich Cheiron und Jesus die Rolle des Heilers. Der christliche Titel „christus medicus“ (Christus der Arzt) hält vor allem diese heilende Dimension des Wirkens Jesu fest.

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Das verbindende Element

Die entscheidende Bedeutung kommt zuletzt den Wunden Jesu zu. So wie die Wunde Cheirons eine Verbindung mit seinen Patienten herzustellen vermag, so werden auch die Wunden Jesu zum verbindenden Element. Den Wundmalen, die der Auferstandene trägt, kommt dieselbe Brückenfunktion zu. Sie weisen in das Leben eines jeden Menschen hinein. Jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens feststellen, dass dieses Leben auf unterschiedlichste Art verwunden kann. Die Erfahrungen von Verlust, Krankheit, Einsamkeit, Gebrechen und nicht zuletzt der Tod, durchdringen den Alltag. Für seelische und körperliche Wunden ließen sich unzählige Beispiele finden. Diese sichtbaren und unsichtbaren Wunden begleiten das Leben. Mensch sein bedeutet immer auch verwundet sein.

Vor diesem Hintergrund ist es deshalb bedeutungsvoll, dass der Auferstandene zugleich ein Verwundeter ist. Jesus tritt im Johannesevangelium als verwundeter Heiler vor die Jünger und zeigt: Egal wie tief einer im Leben verwundet wird, selbst wenn da lebensbedrohliche Wunden geschlagen werden, diese Wunden werden einen nicht zerbrechen!
Auferstehung bedeutet mehr, als auf ein Leben nach dem Tod zu bauen. In den eigenen Wunden tröstet und stärkt der verwundete Auferstandene Tag für Tag.

Saki Santorelli, der Leiter einer Stressklinik in Massachusetts, hat für eines seiner Bücher einen Titel gewählt, der eine österliche Lebenshaltung, wie sie der Evangelist Johannes entwirft, wunderbar ins Wort fasst: „Zerbrochen und doch ganz. Verwundet und doch heil.“

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