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Martin Brüske: Thomas von Aquin ist brandaktuell

Um Thomas zu verstehen, muss man mit ihm denken, sagt der Theologe und Thomas-Kenner Martin Brüske.
Thomas von Aquin, Theologe und Philosoph des Mittelalters.
Foto: imago-images/CatherinexLeblancx@xByzance-Photos | Thomas von Aquin, Theologe und Philosoph des Mittelalters.

Herr Brüske, Thomas von Aquin fasziniert Sie schon seit über 40 Jahren. Warum?

Im Werk des Thomas steckt eine ungeheure Energie der Klärung und eine ungeheure Weite. Thomas ist das Gegenteil eines schrecklichen Vereinfachers. Aber er schafft Klarheit von den letzten Prinzipien her. Da hat man immer wieder das Gefühl: Jetzt atmest Du frische Berguft.

Wie kann man sich Thomas nähern, wie findet man in so einen mittelalterlichen Denker hinein? 

Man braucht natürlich eine gute Einführung in seinen historischen Kontext. Hanns-Gregor Nissing hat zum Beispiel zuletzt so eine, wie ich finde hervorragende, Einführung über den Denker und Dichter Thomas von Aquin vorgelegt. Grundsätzlich lässt sich sagen: Wer Thomas einfach „lesen“ will, wird scheitern. Man muss Thomas studieren, mehr noch: Man muss mit ihm denken. Wer Thomas studiert, blickt mit ihm denkend auf die Sache. Stück für Stück klärt sie sich. Der Blick wird immer freier. Geht man denkend mit, Argument für Argument, Einwand für Einwand, in Einspruch und Auflösung des Einwands, wird man immer tiefer in den Vollzug des Denkens, in seine Bewegung hineingenommen.

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Nie wird man manipuliert. Die Bewegung ist frei und einladend. Sie fragt: Vermagst Du es auch so zu sehen? Und dann steht man plötzlich oben und überschaut eine weite Landschaft des Geistes. Ein großer Sachzusammenhang hat sich geöffnet und ist klar geworden. Nicht nur einmal war das eine überwältigende Erfahrung.

Gibt es Punkte, an denen Thomas besonders aktuell ist?

Einen, es ist aber nicht der einzige, würde ich besonders hervorheben: Wie kaum ein anderer hat Thomas den Menschen als Einheit gedacht. Die Anthropologie des Thomas ist für mich die entscheidende Alternative zu dem Bruch, der mit Descartes am Anfang des neuzeitlichen Denkens steht, durch den der Mensch in Bewusstsein und Mechanik zerfällt und der von seinem Ausgangspunkt her unheilbar ist. Mit Thomas dagegen kann die leibhaftige Lebendigkeit des Menschen durchdacht werden. Thomas ist mit seiner Konzeption damit brandaktuell. 

Sie haben von Bewegung des Denkens gesprochen. Inwiefern kennzeichnet Bewegung auch Thomas‘ Ethik?

Thomas entwickelt eine Ethik, die einen geöffneten und immer wieder Staunen erregenden Blick für die ganze Weite des Menschlichen hat. Sie steht der Reduktionsbewegung der neuzeitlichen Moraltheologie auf die Dialektik von Gesetz und Gewissen entgegen. In der Ethik des Thomas geht es nicht nur um Normen, um Pflichten und Gebote, es geht um das Richtigsein des Menschen. Oder noch genauer: um sein Richtigwerden. 

Eine Ethik des Guten hat sie Servais Pinckaers deshalb nur scheinbar tautologisch genannt. Thomas denkt christliche und menschliche Existenz also dynamisch, als einen Weg auf dem der Mensch in die Freundschaft (amicitia) mit Gott findet. Die Ethik des Thomas ist zutiefst human und zutiefst spirituell - zugleich!

Welche Rolle spielt Jesus Christus in der spirituellen Dimension seiner Ethik? 

Tatsächlich ist auch die Christologie des Thomas faszinierend. Er greift das johanneische Wort vom Weg auf. Vermittelt durch die Menschheit Christi geht der Mensch seinen Weg zu Gott. Christus selbst ist der Weg auf dem letztlich der ganze Kosmos zu seinem Ursprung in Gott zurückfindet.  Kaum jemand hat die Einheit Christi so radikal gedacht wie er - und gerade so hat er die Heilsbedeutung der Menschheit Christi herausgearbeitet. Sie ist ihm innerste Mitte des Heilskosmos. Sie ist ihm sakramentale Vermittlung (instrumentum coniunctum) der Gegenwart Gottes, von dem aus sich der sakramentale Kosmos aufbaut und zugleich die Wirklichkeit mit Christus als Haupt (caput) ihre Einheit findet. In diesem Licht kann Thomas in vielen Quaestionen der Summa auf faszinierende Weise das evangelische Zeugnis Stück für Stück in einer Theologie der Mysterien des Lebens Jesu auslegen.

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Diese Christologie ist aber nur möglich - und für mich ist das der glühende Kern im Denken des Thomas von Aquin - weil Thomas wie, so meine ich, keiner vor und nach ihm herausgearbeitet hat, was es bedeutet ein Geschöpf Gottes zu sein. Chesterton liegt völlig richtig, wenn er geistreich wie immer feststellt, dass, wäre Thomas Karmelit gewesen, man ihn hätte Thomas a creatore, Thomas vom Schöpfer, nennen müssen. Das Sein ist Thomas Gleichnis Gottes in dem Teilhabe geschieht. Darin gehen wir in jedem Augenblick aus der Hand Gottes hervor und werden zugleich in den eigenen Stand gesetzt. Das ist die tiefste Struktur der Kreatürlichkeit.

So zu denken bedeutet für viele heute eine Provokation oder nicht?

Gerade im letzten Punkt ist vielleicht die Tiefendimension der heutigen Krise des Christentums benannt. Wer mit Thomas zu denken wagt, stößt auf Ressourcen, die uns nicht durch sterile Wiederholung, sondern kreativ einer Lösung dieser Krise näherbringen. Deshalb lohnt es sich, sich mit Thomas zu beschäftigen. Auch 750 Jahre nach seinem Tod. Davon bin ich fest überzeugt.

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