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Heimatvertrieben: Frühe Ökumene in der Fremde

Die katholischen Heimatvertriebenen brachten einen reichen Schatz an Volksfrömmigkeit und Brauchtum mit in ihr neues Zuhause. Foto: Imago
Foto: imago stock&people via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Die katholischen Heimatvertriebenen brachten einen reichen Schatz an Volksfrömmigkeit und Brauchtum mit in ihr neues Zuhause. Foto: Imago

 Wie erging es den heimatvertriebenen Katholiken in der jungen Bundesrepublik? Die nach ihrer Flucht beziehungsweise Vertreibung in die Sowjetzone gelangten Katholiken seien oft in eine zweifache Diaspora gelangt: hinsichtlich der Mehrheit der evangelisch-lutherischen Konfession und wegen des zunehmend antikirchlich agierenden Regimes. Dies wiederum habe die Ökumene verstärkt. So beschrieb Torsten Müller, Direktor des Museumsdorfes Cloppenburg, die Situation der katholischen Vertriebenen in der DDR kürzlich bei einer Tagung des Instituts für Kirchen- und Kulturgeschichte der Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa (IKKDOS) in Regensburg. Die Teilnehmer befassten sich mit den organisatorischen und institutionellen Grundlagen der Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in den Jahren 1945–1963. Ein Fallbeispiel aus seiner Heimatregion, einem Ort bei Stuttgart, brachte der IKKDOS-Vorsitzende Rainer Bendel in seiner Einführung. „Nicht nur verschiedene Gruppen von Vertriebenen trafen aufeinander, es gab auch Differenzen zwischen den Ankommenden und Eingesessenen – und damit Probleme der Gruppen untereinander. Bis in die 60er Jahre war dort kein Seelsorger länger als zwei Jahre da“, deutete er die länger andauernden Integrationsprobleme – auch kirchliche – an.

Am Beispiel des im Bistum Hildesheim wirkenden Vertriebenenpriesters Georg Wengler (1905-1971) wurden die Gesichtspunkte „Diaspora“ und „Ökumene“ konkret anschaulich. Sein Seelsorgeraum umfasste 25 bis 30 Orte bei 3  000 (1947) beziehungsweise noch 1  500 Katholiken (1971). Da war, so Hans-Georg Aschoff, die Mitarbeit vieler Laien nötig, darunter Caritas-Helferinnen und Nonnen der Kongregation der Schwestern von der heiligen Elisabeth. Erwähnt sei ein Mitarbeiter, der heute wohl Pastoral- oder Gemeindereferent wäre. „Wegen der Diaspora-Situation entwickelten sich neue Formen“, erklärte Aschoff. Aber auch im Blick auf die Ökumene zeigte er Interessantes auf. So wohnte Wengler zehn Jahre im evangelischen Pfarrhaus, evangelische Kirchen wurden genutzt, bis Notkirchen beziehngsweise später richtige Gotteshäuser gebaut waren. Und Wengler setzte sich über kanonische Vorgaben hinweg, wenn er konfessionsverschiedene Eheleute traute und dabei eine Brautmesse zelebrierte. „Das Verhältnis zur evangelischen Kirche war weitgehend spannungsfrei. Aber man bemühte sich auch, wieder aus der Verflechtung mit den Protestanten herauszukommen“, relativierte Aschoff.

Katholiken brachten Wallfahrtstraditionen mit

Einen ergänzenden Aspekt aus dem Diaspora-Bistum Hildesheim brachte Pastoralreferent Jürgen Franz Selke-Witzel ein. Mehr als 400.000 ostdeutsche Katholiken siedelten sich hier an und brachten ihre Wallfahrtstraditionen mit. Ebenso fanden vertriebene Franziskaner eine neue Heimat, so dass bereits im Oktober 1946 erstmals eine Hedwigswallfahrt organisiert wurde und nach 1949 drei neue Marienwallfahrtsorte begründet wurden.  Ein ähnliches Beispiel, die vor allem von Schlesiern in den Nachkriegsjahren in Nörten-Hardenberg und damit an einem neuen Ort begründete und bis heute praktizierte Wallfahrt „Maria in der Ferne“, stellte Heinke Kalinke, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, vor. Die Wallfahrt war auch Ersatz für eine frühere, nicht mehr praktizierte, und wurde ohne Unterstützung des örtlichen Pfarrers durchgeführt. Dieser lehnte die Wallfahrt ab und sah „die Gefahr einer Kirche in der Kirche“, so Kalinke. Bedenkenswert: Mitglieder der evangelischen Kirchengemeinde begrüßten und förderten die Wallfahrt. Den Ritterschlag sozusagen erhielt die Wallfahrt, als 1950 Papst Pius XII. einen Kelch dafür stiftete. 

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Exemplarische, aber konkrete Zahlen zur Entwicklung der Diaspora-Situation lieferte Zofia Durda, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Freilichtmuseum am Kiekeberg, für den Landkreis Harburg südlich von Hamburg. Hier betrug 1939 der Katholikenanteil 2,1 Prozent. Nach der Bombardierung Hamburgs 1943 siedelten viele Hamburger in den Landkreis Harburg. 1945/46 kamen zahlreiche Flüchtlinge hierher, vor allem aus Schlesien – und damit Katholiken. So waren 1946 von den gut 120.000 Landkreisbewohnern ungefähr 9.000 katholisch, das heißt 7,  5 Prozent.
Einen ökumenischen Aspekt bildeten auch die Notkirchen und -kapellen, die meist beide christlichen Konfessionen nutzten – wie etwa im niedersächsischen Sandbostel im früheren Kriegsgefangenenlager, das – neben anderen Objekten – der Architekt, Bauhistoriker und Denkmalpfleger Stefan Amt vorstellte. Auch in der Oberpfälzer Vertriebenenstadt Neutraubling war die Notkapelle beziehungsweise -kirche „Schauplatz einer frühen Ökumene“, wie Elisabeth Fendl, in Freiburg am Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa tätige Wissenschaftlerin, erläuterte.

Religiöse Bindungen ließen nach

Wie anfangs erwähnt, standen die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in der Sowjetzone und später in der DDR in einer besonderen Diaspora-Situation. „Bleiben oder Weiterwandern – diese Frage war für die Katholiken virulent“, brachte es Torsten Müller auf den Punkt. Gottesdienste konnten oft nur in Schuppen, Garagen oder Gasthäusern gefeiert werden, Kirchenneubauten waren selten, die Kommunikation mit den Diözesen in Westdeutschland war eingeschränkt. Priesterausbildung gab es nur in Erfurt. „Es entwickelte sich eine eigene Mentalität der Kirche in der DDR“, unterstrich Müller. Er verwies auf lebendige Flüchtlingsgemeinden, die einen „Beitrag für ein neues Bewusstsein dieser Kirche“ hätten leisten können – zum Beispiel durch neue Seelsorgekonzepte. 

 Doch ab Mitte der 1950er Jahre bis 1961 wuchs der Druck auf die katholische Kirche. Vertriebene, die wegen ihrer Konfession bereits zum Großteil in einer Diaspora-Situation waren, erlebten nun eine zweite Form der Diaspora, eine ideologisch geprägte Umwelt. Das führte zu neuen Wegen in der Ökumene und zum Aufbau eigener kirchlicher Verwaltungsstrukturen. Aber auch Binnenwanderungen innerhalb der DDR vor allem in Städte und Abwanderung in die Bundesrepublik waren besonders in diesen Jahren bei Katholiken verbreitet. „Trotz der Zuwanderung der Vertriebenen in protestantische Regionen blieb der katholische Anteil gering und weit verstreut. Die religiösen Bindungen ließen nach, auch weil das soziale Umfeld fehlte und die religiösen Eigenarten der protestantischen Menschen dies begünstigten. Eine Volkskirche in Verbünden oder einem kleineren Maßstab ließ sich nicht realisieren“, beschrieb Müller. Zudem fehlten Elemente religiöser Volksfrömmigkeit, die Heimatvertriebenen erlebten zunehmend eine Entwöhnung vom Gottesdienstbesuch und Sakramentempfang. Dazu kam die Assimilation in die DDR-Strukturen. In geringem Umfang konnten nur die Schlesier die katholische Kirche in der DDR ein wenig prägen. 

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